Das Mädchen am Rio Paraíso
ein zartfühlendes, langsames Werben war nun einfach keine Zeit mehr. Er und Joaninha würden morgen nach Porto Alegre zurückkehren. Klara würde hierbleiben wollen, würde die Trümmer ihres Lebens zusammenfegen und anschließend versuchen, sich irgendwie allein durchzuschlagen. So gut kannte er sie inzwischen.
Aber was war das für ein Irrsinn? Was erwartete sie denn hier? Ihr würde ewig der Makel des nicht vollständig ausgeräumten Verdachts anhaften, sie sei vielleicht eine Mörderin. Sie würde sich zu Tode schuften, ohne je mehr zu erreichen, als dass sie sich und ihre Tochter satt bekam. Ohne männliche Hilfe würde es ihr nie gelingen, zu einem bescheidenen Wohlstand zu kommen oder sich ein behagliches Heim zu schaffen. Die Freundschaft zu diesen Leuten, bei denen sie vorhin gewesen waren, hatte sich erledigt. Und viele andere Nachbarn, auf deren Hilfe sie rechnen konnte, gab es auch nicht. Vor allem würde Klara ihr Überleben nicht von der Mildtätigkeit anderer abhängig machen wollen.
Er hätte sich gern mit ihr ausgesprochen, jetzt und hier, auf dem Wagen. Aber vor der Sklavin wäre Klara gehemmt. Und später, in ihrer Herberge, wären sie ständig unter Beobachtung und würden kaum noch einmal die Möglichkeit haben, einander unter vier Augen zu sprechen. Es sei denn, er ging wieder in ihr Zimmer. Raúl bezweifelte jedoch, dass Klara die Tür auch diese Nacht für ihn öffnen würde.
Sie erreichten das Dorf, das um diese Zeit wie ausgestorben wirkte. Aber bei Antonia und Konrad brannte noch Licht. Die beiden waren überrascht, dass ihre drei Gäste vom Vortag erneut bei ihnen erschienen, freuten sich aber darüber.
»Ich dachte, ihr bleibt da draußen, in euerm Haus oder bei Franz und Christel«, sagte Antonia.
»Na ja«, druckste Klara herum, »also, unser Haus ist nicht gerade in einem besonders guten Zustand, und bei Gerhards war es für uns alle doch ein wenig beengt.«
»Ah, aber dein Hildchen habt ihr mitgebracht. Lass dich ansehen, Kind – nein, bist du niedlich! Möchtest du eine Zuckerstange? Komm mit, wir gehen gemeinsam zur Vorratskammer und holen dir eine.«
Konrad blieb mit der Gruppe allein, was ihm merklich unangenehm war. Fürs Reden war immer Antonia zuständig, er war mehr ein Mann der Taten. Schweigend ging er zum Tresen, holte eine Flasche Schnaps und stellte sie, zusammen mit fünf Gläschen, auf einen Tisch. Er lud Joaninha und Raúl durch Heranwinken dazu ein, Platz zu nehmen und zu trinken.
Raúl lehnte freundlich ab. »Sag ihm, dass mir noch der Schädel von gestern brummt. Und Joaninha bekommt keinen Schnaps. Das heißt, ausnahmsweise vielleicht doch einmal.« Er drehte sich zu der Sklavin um. »Willst du einen deutschen Schnaps? Er brennt entsetzlich in der Kehle, aber er wärmt dich durch und durch.«
Joaninha schüttelte entgeistert den Kopf. Selbstverständlich wollte sie
keinen
deutschen Schnaps. Bei diesen Leuten wusste man ja nie, was sie hineintaten. Wenn das Gebräu auch nur annähernd so grässlich schmeckte, wie ihre Sprache klang, würde sie sich das Zeug ums Verrecken nicht antun. »Nein, vielen Dank, Senhor Raúl«, sagte sie artig. »Wenn Sie erlauben, würde ich jetzt lieber schlafen gehen.«
»Ich erlaube es.«
Sie machte einen Knicks und verschwand. Dass sie kein Abendessen zu sich genommen hatte, fiel keinem auf. Und sie selber mochte eigentlich auch nicht gern an einem Tisch mit diesen Fremden sitzen, wo sie nichts verstand und wo sie verhohlen aus den Augenwinkeln beobachtet wurde. Außerdem hatte sie ja noch den stibitzten Kuchen von den schrecklichen Leuten, bei denen sie am Nachmittag gewesen waren. Der schmeckte wenigstens, im Gegensatz zu dem harten Käsebrot, das ungenießbar gewesen war und das sie in den Schweinetrog geworfen hatte.
Zur großen Erleichterung aller kam Antonia schnell zurück. »Vielleicht solltest du erst das Kind zu Bett bringen«, sagte sie zu Klara, »die Kleine schläft ja schon mit offenen Augen.«
»Haben wir dieselben Zimmer wie gestern?«
»Ja, natürlich. Gemacht sind sie auch. Andere Gäste haben wir zur Zeit keine.«
Klara nahm ihr Hildchen, stieg die steile Treppe ins erste Geschoss hinauf und legte das Kind in ihr frisch bezogenes Bett. Keine drei Sekunden später schlief ihre Tochter.
Unten saßen nun Raúl, Antonia und Konrad schweigend vor dem Schnaps und zogen Gesichter, denen ihr Unbehagen klar abzulesen war. Raúl saß aufrecht auf der Holzbank und starrte an die Wand, als versuche er, die
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