Das Mädchen am Rio Paraíso
im Dschungel ausgesetzt. Wie grausam sie das damals gefunden hatte. Und wie gern sie jetzt wieder dort gewesen wäre, mit all den Insekten, den durchweichten Schuhen, den wehen Knochen. Und mit Raúl. Ach, alles hätte sie gegeben, um diese Tage noch einmal durchleben zu dürfen!
»Wenn ich du wäre«, setzte Antonia ihre Ansprache unbeirrt fort, »würde ich mir das Hildchen schnappen und schnurstracks zum Anleger rennen. Geh mit ihm, Klärchen! Was hält dich denn hier? Pfeif auf uns, pfeif auf das Gerede, pfeif auf dein Grundstück und auf deine paar Siebensachen – und lauf!«
Antonias Ton hatte etwas so Eindringliches, ihre Vision war so bestechend, dass Klara tatsächlich einen Augenblick darüber nachdachte. Sie spürte einen Stich von Neid auf die Fähigkeit Antonias, die Dinge so unbeschwert, so optimistisch zu sehen. Ihr selber war diese Gabe abhandengekommen. Dafür war sie klüger geworden.
War sie das? Je mehr ihr Weinkrampf nachließ, desto mehr war Klara in der Lage, wieder ihren Verstand zu benutzen. Ihre Logik kehrte zurück. Und plötzlich erkannte sie, welchen Denkfehler sie begangen hatte. Wenn sie bereit war, Raúl in den Urwald zu folgen, ihm zuliebe all diese Gefahren noch einmal zu durchleben, dann würde sie es doch mit den Schrecken, die sie vielleicht auf seiner
estância
erwarteten, allemal aufnehmen können. Das war doch lachhaft, dass sie sich vor aufsässigen Sklaven oder hochnäsigen Damen fürchtete!
Sie hatte einen
jacaré
erlegt, einen Jaguar in die Flucht geschlagen, eine Indio-Frau von ihrer Hexenkunst überzeugen können. Sie hatte ein Kind zur Welt gebracht und ein Bein amputiert. Sie hatte eine Atlantiküberquerung überlebt und die Schläge ihres Mannes. Wovor hatte sie eigentlich Angst? Schlimmer würde es ja wohl kaum kommen.
»Du packst das«, raunte Antonia ihr zu, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Na los jetzt, schnell!«
Und Klara gehorchte. Sie nahm das Geld, gab die Hälfte davon Antonia, die es widerwillig annahm, und rannte aus dem Raum, ohne sich noch einmal im Spiegel anzusehen oder ihre Kleidung zu richten. Unten schnappte sie sich ihre Tochter, die zusammen mit Antonias Kind auf dem Boden herumtollte. Dann lief sie hinaus und band Diabo los. Konrad war ihr nachgelaufen, weil er dachte, es sei etwas Schlimmes passiert.
»Hilf mir aufs Pferd«, kommandierte sie. Er hielt ihr die zum Steigbügel verschränkten Hände hin, und Klara schwang sich geschmeidig auf den Rücken des Pferdes. »Gib mir Hildchen.«
»Aber du kannst doch nicht … so ohne Sattel …«
»Ich kann!«, wischte sie seinen Einwand weg. »Und ich werde! Also los, gib mir das Kind, aber hurtig!«
Er reichte ihr Hildchen. Inzwischen war auch Antonia draußen angelangt. »Viel Glück!«, rief sie, doch da hatte Klara dem Tier bereits dreimal schnell hintereinander auf den Hals geklopft und war schon in wildem Galopp unterwegs zum Anleger.
Die Strecke war kurz, dennoch hatte sie es für gut gehalten, das Pferd zu nehmen. Jetzt, da sie herunterzufallen drohte und Hildchen gleich mit ihr, kam ihr der Einfall gar nicht mehr klug vor. Aber irgendwie gelang es ihr, sich in der Mähne festzukrallen und nicht abgeworfen zu werden. Nach kaum zwei Minuten erreichte sie den Steg.
Er war leer.
Das Boot war fort.
Sie schaute den Fluss hinab und konnte es noch in der Ferne sehen. Die gehissten Segel erschienen ihr wie ein zum Abschied gezücktes Taschentuch. Es noch erreichen zu wollen hätte keinen Sinn gehabt. Zwar war der Hengst viel schneller als die Fähre, aber an der unwegsamen Uferböschung kämen sie nur im Schritttempo voran. Es war aussichtslos. Ihr ganzes Leben war aussichtslos. Klara hätte ihr Gesicht gern in der Mähne des Pferdes vergraben. Aber Hildchen saß vor ihr, so dass sie sich nicht so weit vorbeugen konnte. Also schluchzte sie in das weiche Haar ihrer Tochter, die ohnehin schon ganz durcheinander war. Erst dieser verrückte Ritt, dann der plötzliche Halt und nun die Tränen ihrer Mutter – das war mehr, als ihr zweijähriges Köpfchen begreifen konnte. Also tat sie, was sie am liebsten tat: Sie lachte.
Klara tat es ihr nach. Aber es war ein freudloses, trockenes Lachen, das ihre ganze Seelennot zum Ausdruck brachte.
»Bist du so froh, dass du mich endlich los bist?«
Klara hob erschrocken den Kopf. Litt sie nun endgültig unter Wahnvorstellungen? Sie sah sich um, konnte jedoch Raúl nirgends entdecken. Was war das nun wieder für eine neue Qual, die Gott sich
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