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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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für sie ausgedacht hatte?
    »Und ich hatte mir eingebildet, du würdest mir die eine oder andere Träne nachweinen.«
    Nein, es war kein Trugbild. Sie hatte ihn zuerst nicht sehen können, weil er direkt vor ihr stand, sein Kopf gleich schräg unter dem des Pferdes. Er musste sich, während sie verzweifelt dem Schiff nachgeschaut hatte, herangeschlichen haben.
    »Oh Raúl!«, schluchzte sie. »Das ist nicht lustig.«
    »Nein?« Er hob Hilde herunter und machte mit ihr eine wilde Drehung. Das Kind jauchzte vor Vergnügen. »Deine Tochter ist klüger als du.
Sie
findet es lustig.« Er drehte sich noch einmal mit Hildchen. Er sah Klara nicht an, sondern schien sich auf das Mädchen zu konzentrieren, als er beiläufig fragte: »Und, was führt dich hierher?«
    »Ich … ich glaube, ich habe die Fähre verpasst.« Sie sah ihn mit einem schiefen Lächeln an. Er fand sie wunderschön, wie sie auf Diabo thronte, ohne Sattel, in zerknitterter Kleidung und mit rotverquollenem Gesicht.
    Er setzte das Kind ab und trat ganz nah an Klara heran, die noch immer auf dem Pferd saß. »Ach, so ein Zufall. Ich habe sie ebenfalls verpasst.« Er fuhr mit einer Hand unter ihren Rock und streichelte zärtlich ihre Waden. Sein Blick war verhangen, aber er sprach in leutseligem Ton weiter. »Dann nehmen wir eben die nächste, was denkst du?«
    »Ja.«
    »Ja?«
    Sie nickte. In ihren Augen sammelten sich schon wieder Tränen, und sie sah Raúl nur schemenhaft. Aber das genügte. Schärfer hätte sie gar nicht erkennen können, was sie schon viel früher hätte begreifen müssen.
    Diesmal, das sagte ihr ein untrügliches Gefühl, wäre der Neubeginn von Erfolg gekrönt. Diesmal würden ihre Hoffnungen und Träume wahr werden. Klara atmete tief ein, ließ sich von Raúl vom Pferd heben und in seine Arme schließen. Dass sie Zuschauer hatten, störte sie nicht. Die Vision einer großen Zukunft schwebte in der Luft. Sie sah sie in Raúls Augen und fühlte sie in seiner Umarmung.
    »Ja«, flüsterte sie, und sie besiegelten ihr Versprechen mit einem Kuss, der alle Verheißungen eines dauerhaften Glücks in sich barg. Alle.

Der historische Hintergrund
    I m Jahr 1822 ruft der portugiesische Prinzregent Dom Pedro I. die Unabhängigkeit Brasiliens aus, er selber wird wenig später zum brasilianischen Kaiser gekrönt. Seine Frau ist die habsburgische Erzherzogin Leopoldina. Sie ist die treibende Kraft hinter der Einwanderungspolitik, die Brasilien betreibt: Gezielt wirbt man um europäische Bauern und Handwerker, die nicht nur den dünnbesiedelten Süden urbar machen, sondern auch in den umkämpften Grenzregionen ihre neue Heimat verteidigen sollen.
    Es werden Werber ausgeschickt, die Auswanderungswillige mit großzügigen Versprechungen seitens der brasilianischen Regierung nach Südamerika locken sollen. Für die darbende Landbevölkerung, auch im Hunsrück, klingen die farbenfrohen Schilderungen der Werber geradezu paradiesisch: Ein Land, in dem die Erde fett ist und in dem es keinen Winter gibt – das allein klingt zu schön, um wahr zu sein. Noch dazu bezahlt das Kaiserreich den Auswanderern die Überfahrt, schenkt ihnen ein Stück Land von ca. 70 Hektar Größe (viele Kleinbauern bewirtschafteten daheim gerade einmal 4 Hektar) sowie Vieh, Saatgut und die nötigsten Gerätschaften für einen Neuanfang. Des Weiteren wird den Leuten Religionsfreiheit und zehnjährige Steuerbefreiung zugesichert. Jeder Erwachsene erhält außerdem im ersten Jahr in Brasilien eine finanzielle Unterstützung von 160 Réis täglich, im zweiten Jahr 80 Réis am Tag (zum Vergleich: ein Pfund Rindfleisch kostete ca. 100 Réis, 1 Pfund Zucker etwa 120 Réis).
    Das Interesse ist enorm, und bereits Anfang 1824 sticht das erste deutsche Auswandererschiff gen Brasilien von Hamburg in See. Die »Wilhelmine« erreicht nach 150 -tägiger Reise Rio de Janeiro. Am 18 . Juli 1824 kommen die ersten 39 »Kolonisten« in Porto Alegre an, von wo sie auf kleineren Booten zur »Feitoria do Linho-Cânhamo«, einer stillgelegten Hanfleinen-Faktorei am Rio dos Sinos, gebracht werden. Sie erreichen diese Faktorei am 25 . Juli 1824  – dieser Tag gilt als das offizielle Datum für den Beginn der deutschen Immigration in Brasilien. In der alten Feitoria wohnen die Neuankömmlinge einige Tage, bevor man ihnen ihre Parzellen zuweist und sie beginnen können, sich ihr neues Leben aufzubauen.
    Diese Pioniere müssen sich zwar mit äußerst schwierigen Bedingungen zurechtfinden, etwa mit dem

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