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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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hohl. Er hörte seine eigene Stimme, als wäre es die eines Fremden, sah sich selber wie ein Automat alltägliche Dinge verrichten, ohne dass sie in sein Bewusstsein vordrangen. Er funktionierte noch, aber er empfand nichts mehr. Nichts außer einem alles verzehrenden Schmerz.
    Er befestigte den Wagen auf dem Boot, leinte das Pferd an und setzte sich auf eine Bank, die an der Reling entlanglief. Geistesabwesend beobachtete er das Treiben auf der Schaluppe. Die Fracht, auf die der Fährmann noch gewartet und weshalb die Abfahrt sich um einen Tag verzögert hatte, bestand aus zehn fetten Schweinen. Der Bauer trieb sie brutal über den schmalen Steg auf das Boot. Sie quiekten hysterisch, als wüssten sie, was ihnen bevorstand. Raúl konnte es ihnen nachfühlen: Er kam sich selber vor wie beim Gang zur Schlachtbank.
    Joaninha hatte sich ein Plätzchen im Heck des Bootes gesucht, wo sie sich halb hinter ein paar Fässern versteckte. Raúl wusste nicht, ob sie vor den ungehörig neugierigen Blicken der Deutschen flüchtete oder vor ihm. Nachdem sie gestern die Pistole abgefeuert hatte, um eine Spinne abzuwehren, von der sie sich bedrängt gefühlt hatte, war sie in seiner Achtung wieder auf einen Tiefstand gesunken.
    Diese Leute mit dem unaussprechlichen Namen, denen das Grundstück gehörte, auf dem Klara und er sich gestern so leidenschaftlich geliebt hatten, waren natürlich herbeigerannt, desgleichen er und Klara, beide zerzaust und mit verschmutzter Kleidung. Allein seiner Kaltblütigkeit war es zu verdanken, dass die Situation nicht zu einer grandiosen Peinlichkeit ausgeartet war. Er hatte Joaninha vom Wagen gezerrt und sie zur Erde gestoßen, damit sie genauso derangiert aussah wie er und Klara. Dann hatte er Klara gesagt, was sie den Leuten berichten solle: dass sie von Indios angefallen worden seien, dass aber die Angreifer das Weite gesucht hätten, als er die Pistole abschoss.
    Genauso geschah es. Klara log vorzüglich, was ihr allerdings nicht schwergefallen sein dürfte. Sie war kurzatmig und hatte gerötete Wangen, was ihrer Schilderung eine große Glaubhaftigkeit verliehen hatte. Die Deutschen luden sie in ihr Haus ein, damit sie sich von dem Schreck erholen und sich halbwegs herrichten konnten. Klara nutzte die Gelegenheit, um sich dann tatsächlich bei Herrn Ungerer, ja, so hatte er geheißen, über die Rechtslage kundig zu machen, und hatte damit ihren ursprünglichen Vorwand in Wahrheit verwandelt.
    Raúl schämte sich insgeheim dafür, dass erneut die Indios als Sündenbock herhalten mussten. Irgendwann wären die Siedler so furchtsam, dass sie nicht zögern würden, einen Ureinwohner bei der ersten Begegnung mit Waffengewalt zu bedrohen. Und das nur, weil ein törichtes Negermädchen eine Spinne mit der Pistole hatte erschießen wollen! Dass sie bei ihrer grenzenlosen Dummheit den Abzug gefunden hatte, war ein Wunder.
    Aber nicht einmal die Wut, die er gestern empfunden hatte, konnte er jetzt noch nachvollziehen. Er sah dem Mädchen zu, wie es sich hinter den Fässern verkroch, und es war ihm vollkommen gleich.
Alles
war ihm egal. Die stinkenden, schreienden Schweine, die feinseligen Blicke der Deutschen, die ihn und Joaninha taxierten, als seien sie Abschaum, die schlecht festgezurrte Ladung des Bootes – es ging ihn überhaupt nichts an. Wenn sie kenterten, sollte es ihm auch recht sein.
    Natürlich würden sie das nicht tun. Er war einmal in den Rio dos Sinos gefallen, was genau einmal zu viel war und nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit nicht noch einmal passieren würde. Außerdem war der Fluss ruhig, das Wetter schön. Raúl erinnerte sich daran, wie er mit Klara durch den Dschungel gewandert war. Ein versonnenes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Wie tapfer sie gewesen war. Und wie erfinderisch. Ihren nagelneuen Unterrock zu opfern, um ihnen ein Dach über dem Kopf zu schaffen, das war ein genialer Einfall gewesen. Und wie süß sie im Schlaf ausgesehen hatte. Herrgott, er würde freiwillig ein ganzes Leben im Dschungel auf sich nehmen, wenn er es nur mit ihr gemeinsam verbringen konnte!Klara starrte auf das Geldbündel in ihrer Hand. Dieser Lügner! Er hatte ihr zum Abschied einen Umschlag gereicht und sie gebeten, ihn erst zu öffnen, wenn er fort war.
    »Ich will kein Geld von dir«, hatte sie gesagt, und er darauf: »Es ist kein Geld. Es ist eine Liebeserklärung.«
    Nun, es war sogar ziemlich viel Geld. Es würde ihr, wenn sie sparsam war und es klug anlegte, für die nächsten

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