Das Mädchen am Rio Paraíso
du es dann nicht sowieso? Warum muss erst etwas passieren?«
»Das weißt du doch. Du fandest die Idee selber gut, dass wir uns vom Kapitän trauen lassen.«
»Ich glaube, du machst dir vor Angst in die Hosen.«
»Ach ja?«
»Ja. Du traust dich erst, wenn deine Eltern schön weit weg sind.«
Hannes funkelte mich wütend an. Seine dichtbewimperten, haselnussbraunen Augen, aus denen ich nur warme und zärtliche Blicke kannte, schienen mich förmlich zu durchbohren. Sein Zorn ließ ihn von mir abrücken. Seine Stimme war kalt, doch er bemühte sich um einen sachlichen Ton, als er sagte: »Es ist nicht mutig, deine und meine Familie vor den Kopf zu stoßen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Warum sollen wir uns unnötig das Leben schwermachen, wenn es doch so viel leichter – und schöner – geht?«
»Weil«, antwortete ich, während ich meine Kleidung richtete, »wir unsere Familien in jedem Fall vor den Kopf stoßen. Glaubst du etwa, die freuen sich, wenn wir zwei als unverheiratetes Paar auf diese Reise gehen?«
»Was willst du eigentlich, Klärchen? Ich dachte, wir wären uns einig gewesen.«
»Ich will, dass du Farbe bekennst. Ich will, dass wir uns lieben können, wann es uns gefällt. Ich will nicht mehr auf feuchten Wiesen oder staubigen Heuböden einen hastigen Akt vollziehen, bei dem man ständig fürchtet, erwischt zu werden. Ich will nicht gezwungen sein zu heiraten, weil ein Kind unterwegs ist. Ich will deine Verlobte oder besser noch deine Ehefrau sein und nicht länger nur dein Liebchen.«
»Ist es das? Bist du um deinen guten Ruf besorgt?«
»Und wenn es so wäre? Ist doch mein gutes Recht.« Ich wusste nicht, was in mich gefahren war, dass ich diesen Streit vom Zaun gebrochen hatte, denn Hannes brachte lauter Argumente vor, denen ich mich in der Vergangenheit bereits angeschlossen hatte. Wir würden uns wirklich viele Scherereien vom Hals halten, wenn wir bis zur Schiffsreise – wenn es uns denn jemals gelänge, unsere Pläne in die Tat umzusetzen – mit der Trauung warteten.
Ich gab keine Ruhe. Ich war an diesem Tag offenbar auf Krawall aus, warum auch immer. Wahrscheinlich saß mir irgendeine von Theos spitzfindigen Bemerkungen quer, oder eine für mein Leben völlig unbedeutende Frau aus dem Dorf hatte mich schief angesehen, was übrigens öfter vorkam, ich bislang aber immer an mir hatte abprallen lassen. Jedenfalls
wollte
ich mich streiten, und es gelang mir auch.
»Mein guter Ruf ist dir anscheinend nicht so wichtig wie dein Geldbeutel. Das ist es doch in Wahrheit, wovor du dich drückst, nicht wahr? Dass du für die Kosten aufkommen musst. Eine anständige Mitgift habe ich nicht zu erwarten, da soll ich wenigstens dieses Geld selber zusammensparen oder -betteln. Du bist ein Geizkragen, Hannes Wagner. Und ein feiger obendrein. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich mit Ja antworten würde, wenn du dich mal dazu durchringen würdest, mich zu fragen.«
Hannes fuhr sich mit der Hand durch sein feines braunes Haar. Das tat er immer, wenn er aufgebracht war. »Undank ist der Welten Lohn«, sagte er verbittert. Ich hätte ihn für seine schreckliche Angewohnheit, andauernd abgedroschene Redewendungen anzubringen, erwürgen können, auf der Stelle, mit meinem Haarband, das ich mir in diesem Moment um den geflochtenen Knoten, der unter meiner Haube hervorlugte, zu wickeln versuchte.
»Undank?«, keifte ich. »Soll ich etwa hierfür dankbar sein?« Damit endete mein Frisierversuch endgültig. Ich warf ihm das rote Samtband vor die Füße. »Soll ich dir auf Knien dafür danken, dass du mich mit Tand und Firlefanz reich bescherst, immer zu Lasten unserer Reisekasse?«
Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Ich erkannte daran, dass Hannes vor Wut außer sich war, aber er beherrschte sich mühsam. »Du …«, stieß er hervor, doch was immer er hatte sagen wollen, er schluckte es hinunter, drehte sich um und stapfte in Richtung Dorfplatz davon.
Ich stand auf dem Gras, das wir platt gewälzt hatten, fühlte seinen Samen aus mir herauslaufen und brach in Tränen aus. Das hübsche Samtbändchen ließ ich auf der Erde liegen, als ich in die entgegengesetzte Richtung marschierte, heimwärts.
In den Wochen nach diesem Streit befolgte ich einen Rat meiner Tante Mechthild, die vor zwei Jahren gestorben war und von der ich erst seitdem begriffen hatte, wie wichtig und lieb sie mir gewesen war: Ich machte mich rar. Ich musste mich mit aller Gewalt dazu zwingen, denn eigentlich hätte ich mich gern
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