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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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reichte, um die Reisekosten zu decken und noch ein wenig für harte Zeiten aufzubewahren. Hannes hatte daraufhin alle Behördengänge unternommen, um sich mit Zeugnissen und Nachweisen aller Art auszustatten. Er war nach Bacharach gefahren und hatte über einen dortigen Agenten die Passagen bis Antwerpen bezahlt. Für zwei Personen.
    Ich schluckte vor Rührung. Das war hundertmal besser als ein Verlobungsring.
    »Jetzt musst du nur noch deinen Pass beantragen, denn das konnte ich nicht für dich erledigen – ich bin ja nicht dein Ehemann«, sagte er. »Aber bald, Klärchen.«
    »Wann«, fragte ich mit zittriger Stimme, »geht es denn los?« Ich war auf einmal, da unser Plan nun wirklich Gestalt annahm, sehr nervös. Es war eine Sache, zu träumen und sich mit der Hoffnung auf ein schöneres Leben die langen Tage auf den Feldern zu versüßen, wo ich im Sommer bei den reicheren Bauern bei der Ernte mitgeholfen hatte. Es war eine ganz andere Sache, konkrete Schritte in diese Richtung zu unternehmen. Ich konnte es nicht fassen – wir würden auswandern!
    »Am dritten September«, sagte Hannes.
    »Am … aber das ist in drei Wochen!«
    Er strahlte mich an. »Genau.«
    »Das geht nicht, Hannes. Am vierten hat Lukas Geburtstag. Und am siebten ist der Auftritt des Kirchenchors, weil doch der Bischof zu Besuch kommt, und ich singe ein Solo.«
    »Die werden ab sofort immer ohne dich auskommen müssen. Aber wenn du lieber in der Kirche singst, bitte sehr.«
    »Nein, so war das doch nicht gemeint. Ich will nichts lieber, als mit dir zusammen ein neues Leben anfangen, das weißt du doch. Nur, warum muss es plötzlich so schnell gehen?«
    »Weil wir sonst bis März warten müssten, und noch einen so grausamen Winter wie den letzten würden wir beide nicht ertragen.«
    Das stimmte. Es fiel mir in der lauen Sommerluft schwer, mich in den Winter zurückzuversetzen und mir die Qualen vor Augen zu halten, denen wir ausgesetzt gewesen waren. Wir hatten erbärmlich gefroren, und dem Sohn von Peter waren, als er sich auf der Suche nach Brennholz im Wald verirrt hatte, mehrere Zehen abgefroren. Sogar im Haus war es, außer in der Küche, so klirrend kalt gewesen, dass ich, um unsere Nachttöpfe zu leeren, einen Eispickel benutzen musste. Jetzt erschien das alles so weit entfernt, aber schon in wenigen Wochen würde der Herbst Einzug halten und mit ihm die Luft, in der bereits der Duft von Schnee zu erahnen war. Wollte ich einen weiteren entbehrungsreichen Winter erleben? Nein. Endlich lächelte ich.
    »Ich freu mich, Hannes.« Und das tat ich auch, obwohl meine Freude durch eine plötzlich aufkeimende Angst gedämpft wurde.
    Mir war so bang wie nie zuvor in meinem Leben.

[home]
15
    D as Wörterbuch eröffnete Klara ganz neue Horizonte. Es war wunderbar, endlich die Dinge beim Namen nennen zu können. Zwar haperte es allzu oft an der Aussprache, denn die wurde in dem Buch nicht aufgeführt, und vom Bilden vollständiger Sätze war Klara noch genauso weit entfernt wie von der Beugung der Verben. Aber immerhin konnte sie sich in primitiven Sätzchen mitteilen:
Clara querer casa
 – Klara wollen heim.
Teresa ser amiga
 – Teresa sein Freundin.
Senhor Raúl rir nunca
 – Senhor Raúl lachen nie.
    Was die anderen äußerten, verstand sie dagegen kaum besser als zuvor. Einzelne Wörter identifizierte sie als solche und schlug sie nach. Aber meistens sprachen Teresa, Aninha und Senhor Raúl so schnell, dass die Wörter ineinander übergingen und die Sätze klangen wie aus einem Stück. Nur wenn man ihr gezielt Fragen stellte, die so schlicht formuliert waren wie ihre eigenen Sätze, verstand sie – und war plötzlich gezwungen, Antworten zu geben.
    Was genau ihr zugestoßen sei, begehrte Raúl zu wissen, wo sie herkomme, ob sie Familie habe, wie alt sie sei, ob sie Bekannte in der Stadt habe, die sich um sie kümmern konnten. Während sie ihm mit Hilfe ihres Wörterbuchs sowie mit Händen und Füßen die meisten Fragen beantworten konnte, geriet sie bei der Suche nach der Ursache ihres Unfalls in Erklärungsnot. Sie wusste es einfach nicht mehr. Sie sah weiterhin den Kopf der Porzellantänzerin unter die Brennscheite rollen, danach nur Schwärze. Was sie deutlich vor ihrem geistigen Auge sah, ihm jedoch verschwieg, war die Szene, die der Enthauptung der Figur vorangegangen war. Es hatte einen bösen Streit gegeben – wieder einmal. Sie hatten sich eigentlich nur noch gestritten. Er hatte seinen Stock über das Wandbord sausen

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