Das Mädchen am Rio Paraíso
lassen, auf dem die Porzellanfigur einen Ehrenplatz gefunden hatte. Sie wusste noch, dass sie sich gewundert hatte, wie ein Betrunkener so viel Kraft und Beweglichkeit aufbringen konnte. Über etwas anderes hatte sie sich ebenfalls gewundert, aber das war, mitsamt den nachfolgenden Ereignissen, verschlossen hinter einer Tür in ihrem Gedächtnis, die sie beim besten Willen nicht zu öffnen vermochte.
Ob sie zurück nach Hause wolle, hatte Raúl gefragt, und sie hatte zögernd bejaht.
»Schön. Du bist ja körperlich wieder in guter Verfassung, so dass wir die Reise bald antreten können – möglichst bevor der Winterregen einsetzt und solange eine Überquerung des Rio dos Sinos einigermaßen gefahrlos möglich ist. Ich bringe dich heim zu deinen Leuten.« Das alles sprach er überdeutlich aus. Er machte viele Pausen, damit sie einzelne Wörter nachschlagen konnte.
Schließlich sah sie ihn unglücklich an.
»Was ist, freust du dich nicht?«
Sie zuckte gleichgültig die Achseln. Nein, aus irgendwelchen Gründen freute sie sich nicht. Doch Klara spürte immer deutlicher, wie sehr sie diesem Mann zur Last fiel, der, so viel hatte sie inzwischen begriffen, darauf brannte, die Stadt zu verlassen und selber heimzukehren. Er hatte eine große Rinderfarm im Landesinnern, auf der er gebraucht wurde. Nur ihretwegen war er noch in Porto Alegre.
Nun, vielleicht doch nicht allein ihretwegen. Anscheinend traf er sich gelegentlich mit einer Frau, was Klara beruhigte. Sie hielt ihn ohnehin für einen Sonderling, aber die Tatsache, dass er als eine anscheinend »gute Partie« noch Junggeselle war, hatte sie mehr als alles andere befremdet. Sie stellte sich manchmal vor, was das wohl für eine Frau sein mochte, die sich freiwillig mit so einem schroffen Kerl einließ, und malte sich eine abweisende, freudlose höhere Tochter aus verarmtem portugiesischem Adel aus. Eine mit Damenbart und schlechten Zähnen und inquisitionsgerechter Erziehung.
Dass es sich ganz und gar nicht so verhielt, davon durfte sie sich eines Nachmittags persönlich überzeugen, als besagte Dame unangemeldet in der Rua Camões auftauchte.
»Wo finde ich Senhor Raúl?«, fragte Josefina, als sie Klara, ohne sie eines Blickes zu würdigen, ihre Handschuhe und einen Sonnenschirm reichte.
Klara fühlte sich wie ein Garderobenständer. Leider, gestand sie sich ein, benahm sie sich auch wie einer. Sie stand da wie angewurzelt und schwieg die Besucherin – eine bildhübsche Person – an. Sie stand noch immer im Flur, als die schöne Frau längst verschwunden war.
Josefina hatte keine Antwort von dem offenbar blödsinnigen Mädchen abgewartet. Energisch schritt sie in die Richtung, in der sie den Hausherrn vermutete.
»Mein lieber Raúl, was für ein Glück, dass ich Sie zu Hause antreffe. Ich hoffe, ich störe Sie bei einer dieser langweiligen Beschäftigungen, wie nur Männer ihnen freiwillig nachgehen?«
Raúl schrak überrascht aus seiner Zeitungslektüre hoch. »Josefina!«
»Ah, ich sehe, Sie studieren die Börsenkurse. Na, machen Sie schon. Lesen Sie sie zu Ende – wenn Ihre Aktien gestiegen sind, entführe ich Sie zu einem Spaziergang, sind sie im Wert gesunken, trinken wir gemeinsam einen Likör.«
Er musste lachen.
»Was verschafft mir die Ehre, meine Liebe?«
»Ehre? Ich hatte gehofft, Sie würden es als freudige Überraschung bezeichnen. Schon gut, Sie müssen darauf nichts antworten – lesen Sie brav weiter, ich komme schon zurecht.« Damit griff sie nach einer Karaffe auf der Anrichte. Als sie sich ein Glas aus der Vitrine nehmen wollte, war Raúl bereits aufgesprungen, um ihr behilflich zu sein. Doch im Übereifer nahm er ihr die Karaffe so unbeholfen aus der Hand, dass sie zu Boden fiel.
»Teresa!«, rief er, und zu Josefina gewandt sagte er leise: »Verzeihen Sie meine Tolpatschigkeit. Ich bin es nicht gewohnt, dass junge Damen mich so überrumpeln.«
»Das glaube ich Ihnen nicht – ich hätte schwören können, dass Sie an jedem Finger zehn Verehrerinnen haben.«
In diesem Moment betrat Teresa den Salon, knickste ehrerbietig vor dem Gast und besah sich den Schaden. »Der gute Cognac, der gute Cognac«, nuschelte sie vor sich hin und lief eilig davon, um Handfeger, Kehrblech und Putzlappen zu holen.
Zurück kam sie in Begleitung von Klara. Diese hockte sich vor die Anrichte und fegte die Scherben auf. Als sie keine Splitter mehr entdecken konnte, nahm sie mit einem Wischtuch die verschüttete Flüssigkeit auf. Ordentlich zu
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