Das Mädchen am Rio Paraíso
eine Weile darin herumgeblättert hatte und immer noch kein bisschen schläfrig war, setzte sie sich an den kleinen Tisch und begann mit dem Entwurf ihrer Aussage. Besser, sie legte sich bereits jetzt die Wörter zurecht, die sie auf der Wache brauchen würde:
imigrante, acidente, amnesia
und einige mehr.
Diese Aufgabe lenkte sie vorübergehend von ihrer Trauer ab, ihrer Trauer um sich selbst, ihre Vergangenheit, ihre Zukunft. Was gäbe sie darum, die Zeit einfach zurückdrehen zu können, sich im Kreis ihrer Familie aufzuhalten, mit ihnen an langen Winterabenden musizieren zu können und die kleine Hilde auf dem Schoß von deren Patentante Hildegard zu sehen – denn Klaras Wahl einer Taufpatin wäre mit Sicherheit auf ihre ältere Schwester gefallen. Was gäbe sie darum, wenn sie die tatsächlichen Erlebnisse der vergangenen zweieinhalb Jahre, an die sie sich mittlerweile nur zu gut erinnerte, gegen die Hoffnungen und Träume eintauschen könnte, die sie daheim in Deutschland noch gehabt hatte.
Sie trauerte auch um Hannes, obwohl er mehr als nur ihre Visionen von einem besseren Leben zerstört hatte. Wo war der optimistische, zupackende Bursche geblieben, dem sie in die Ferne gefolgt war, dem zuliebe sie die Vorhersehbarkeit eines ereignisarmen und entbehrungsreichen Lebens im Hunsrück weggeworfen hatte, um das Unvorhergesehene, das Abenteuer zu finden? Nun, sie hatte es gefunden, und jetzt war Hannes tot.
Klara kamen erneut die Tränen. Erst kullerten sie nur langsam über ihre Wangen, ohne dass sich Klaras Gesicht bewegte. Dann kamen erste Schluchzer, bis sie schließlich von Kopf bis Fuß von einem Weinkrampf geschüttelt wurde und kaum noch Luft bekam. Sie ließ ihre Notizen auf dem Tisch liegen, wankte halbblind zum Bett und vergrub den Kopf im Kissen. Sie heulte sich regelrecht müde – und schlief endlich bei brennendem Licht ein.
Raúl erwachte noch vor Sonnenaufgang. Eine nervöse Unruhe hatte von ihm Besitz ergriffen und ihn nicht friedlich ausschlafen lassen. Heute musste er Klara den Behörden ausliefern. Er hoffte nur, dass die Beamten es ihm nicht schwerer machten als nötig – wenn sie auf die Idee kämen zu fragen, warum er sich erst jetzt meldete, käme er in Erklärungsnot. »Weil«, hörte er sich sagen, »das Präsidium schon nicht mehr besetzt war, außer mit dem Nachtwächter, als ich meinen Kaffeeklatsch mit der Senhorita Josefina beendet hatte.« Tja, da musste er sich schon eine beamtentauglichere Version einfallen lassen. Wie wäre es mit: »Weil Dona Klara«, hier stutzte er kurz, denn weder hatte er sie jemals mit der für verheiratete Frauen bestimmten Form angesprochen noch sie als eine respektable, gleichsam unantastbare Dona Klara betrachtet, »nicht in der Verfassung war, sich auf dem Amt einzufinden, und Sie werden mir darin zustimmen müssen, dass bei einer Dame, die derartige Schrecken durchlebt hat, die Gesundheit an vorderster Stelle stehen muss, nicht zuletzt um des armen vaterlosen Kindes willen.« Das war gut, so würde er es sagen. Beamte mochten gestelzte Formulierungen, ja, sie gingen förmlich darin auf. Außerdem nahmen sie einen ernster, wenn man noch geschwollener reden konnte als sie.
Er nahm sich mehr Zeit als gewöhnlich für seine Morgentoilette, denn nur glattrasiert und mit pomadisiertem Haar würde sein Auftreten auch mit seiner Sprechweise harmonieren. Dann trank er schweigend seinen Milchkaffee, die neugierigen Blicke Teresas ignorierend. Die Schwarze merkte, dass mit ihrem Dienstherrn etwas anders war als sonst, aber sie ließ sich zu keiner indiskreten Frage hinreißen. Vielleicht wollte Senhor Raúl der feschen Josefina heute einen Antrag machen, so wie er sich herausgeputzt hatte? Nun, sie wäre die Erste, die ihm dazu gratulieren würde – aber fragen würde sie ihn niemals. Er musste schon selber damit herausrücken.
Nachdem er ein sehr frugales Frühstück zu sich genommen hatte – zu dem
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gab es noch drei Kekse – begann Raúl allmählich, unruhig zu werden. Wo steckte Klara bloß? Sie war doch sonst immer in aller Herrgottsfrühe auf den Beinen. Er fragte Teresa, aber die wusste auch nicht mehr als er.
»Ich hab sie heute noch nicht gesehen. Gönnen Sie ihr doch auch mal, dass sie ausschläft.«
Als Klara um acht Uhr morgens immer noch nicht aufgetaucht war, schickte Raúl Teresa nach oben, um nachzusehen, ob die Deutsche noch schlief.
Ihm schwante Übles, als er Teresa im Eilschritt die Treppenstufen
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