Das Mädchen am Rio Paraíso
herunterpoltern hörte. Sie bewegte sich nie anders als leise und bedächtig.
»Sie ist weg!«, rief Teresa völlig aufgelöst. »Sie ist nicht auf ihrem Zimmer.«
Na warte!, dachte Raúl und machte sich wutentbrannt auf, selber nachzusehen. Dabei wusste er genau, dass Teresa recht hatte. Klara war verschwunden.
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21
E s sollten weitere vier Wochen vergehen, bevor wir endlich die Küste Südamerikas erreichten. Noch bevor Land auszumachen war, kündigte es sich an: Auf einmal kreisten wieder Vögel über unserem Schiff. Wir hatten ihre Abwesenheit auf hoher See gar nicht wahrgenommen. Jetzt begrüßten wir die Vögel wie die Boten einer frohen Nachricht, die sie ja tatsächlich auch waren.
Man kann sich unsere Erleichterung darüber, dass diese Höllenfahrt nun bald ein Ende haben würde, kaum vorstellen. Unterwegs waren sowohl das Kind der Schlüters als auch Therese Hellmann gestorben, beinahe gleichzeitig. Sie waren auf See bestattet worden, wenn man das Über-Bord-Werfen zweier in Lumpen eingewickelter Leichname so nennen kann. Wir hatten ein Gebet gesprochen und waren dann eilig wieder an die Arbeit gegangen. Das Aufklatschen der Leiber auf dem Wasser hallte in unseren Ohren nach, und wir mussten uns sehr anstrengen, um nicht von Entmutigung übermannt zu werden.
Samt und sonders waren wir abgemagert, verlaust und litten unter Krätze oder Durchfall. Unsere seelische und geistige Verwahrlosung war ähnlich weit vorangeschritten. Jeder war nur noch sich selbst der Nächste. Die kleinste Meinungsverschiedenheit drohte in Mord und Totschlag auszuarten. Es kostete uns alle eine schier unmenschliche Beherrschung, die beiden anderen Kinder der Schlüters, die als Einzige ihre Gemütsruhe behalten hatten – wenngleich auch sie deutlich weniger ausgelassen tobten als zu Beginn der Reise –, nicht windelweich zu prügeln, wenn sie einem wieder im Weg herumliefen. Für den alten Hellmann, der die Infektion überlebt hatte, jetzt aber humpelte und noch sehr schwach auf den Beinen war, hatten wir nicht die Spur von Mitgefühl übrig. Was mussten so alte Leute auch noch eine solche Reise antreten? Selber schuld, wenn er jetzt Witwer war.
Wir wurden immer mehr zu Tieren. Ich schämte mich dafür, konnte aber trotzdem nicht anders, als meine Geburtstags-Leberwurst klammheimlich allein zu verschlingen, pur, ohne ein Stück Brot, direkt aus dem Glas. Hannes war sehr wütend auf mich, als ich es ihm beichtete, konnte aber nicht viel Aufhebens darum machen: Einer schwangeren Frau musste man solche Fehltritte wohl oder übel verzeihen.
Inzwischen war mir klar, dass ich wirklich in anderen Umständen war. Ich hatte Hannes davon erzählt, sonst aber keiner Menschenseele. Wir waren uns einig, dass es besser war, bis zur Ankunft in Brasilien damit zu warten. Wahrscheinlich wollten wir uns mitleidige Blicke ersparen oder bürokratischen Ärger. Hannes hatte, als er die Neuigkeit erfuhr, zwiespältige Gefühle. Einerseits empfand er es, genau wie ich, als Belastung, die zum ungünstigsten Zeitpunkt kam, andererseits war er sehr stolz darauf, Vater zu werden. Ich musste ihn ein paarmal davon abhalten, sich vor den anderen Männern mit seiner Zeugungskraft zu brüsten.
An Heiligabend 1824 sahen wir zum ersten Mal Land am Horizont. Unser Jubel war unbeschreiblich – Brasilien! Am liebsten wären wir alle sofort vom Schiff gesprungen und an den Strand geschwommen, wenn wir denn hätten schwimmen können. Aber ein wenig Vernunft war uns noch verblieben, so dass wir uns sagten, dass wir es die kurze Zeit, bis wir Rio de Janeiro erreichen sollten, nun wohl auch noch aushalten könnten. Wir sprachen gemeinsam ein Gebet, sangen Weihnachtslieder und dankten dem lieben Jesuskind – weniger für seine Ankunft auf der Erde als vielmehr dafür, dass wir unser Ziel erreicht hatten. Es war ein sehr erhebendes Gefühl, das unser aller Moral stärkte.
Als wir in Rio de Janeiro einliefen, waren wir daher schon nicht mehr ganz so verwildert. Unsere Mitreisenden sahen wir wieder als Verbündete an und nicht länger als Feinde. Bei einigen überkam uns gar Wehmut bei dem Gedanken, dass wir uns nun nie mehr sehen würden – nicht alle Passagiere wollten weiter in den Süden des Landes. Wir hatten uns und unsere Kleidung so gut es ging gewaschen. Wir hatten unser von Sonne, Seeluft und Salzwasser filziges Haar gekämmt. Und wir selber fanden, dass wir wieder ganz manierlich aussahen. Die Leute am Kai dürften das anders empfunden
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