Das Mädchen am Rio Paraíso
haben.
Wenn die Einfahrt in die Bucht von Rio de Janeiro uns bereits vor Staunen große Augen hatte machen lassen – denn die Landschaft mit ihren Stränden und Bergen ist unbeschreib-lich schön –, so wurde uns von unseren ersten Schritten auf dem Festland förmlich schwindlig angesichts der Vielzahl an Eindrücken. Einer der Matrosen lachte und behauptete, wir würden wanken, weil wir so lange keinen festen Boden unter den Füßen gehabt hatten. Er prophezeite uns, dass dieser Zustand noch eine ganze Weile anhalten würde. Aber ich glaubte das nicht. Ich war mir vollkommen sicher, dass dieser Taumel auf unsere Euphorie und die überwältigenden Sinneswahrnehmungen, nicht alle davon angenehmer Natur, zurückzuführen war. Es war heiß und sehr schwül. Es roch intensiv nach Fisch und Hafenschlick. Die Farben der Schiffe, der Marktbuden, der Kleider waren leuchtender als alles, was ich zu Hause je gesehen hatte. Und dann die Menschen! Diejenigen, die unser Schiff sowie unsere Papiere inspizierten und offensichtlich Beamte waren, hatten olivfarbene Haut und schwarzes Haar – Portugiesen offensichtlich. Und diejenigen, die zum Entladen unserer »Victoria« abgestellt worden waren, hatten dunkelbraune Haut.
Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Negersklaven. Sie sahen nicht so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Keiner davon war angekettet oder wirkte ausgemergelt. Sie trugen ordentliche, wenngleich fremdartige Kleidung. Eine Frau war mit sehr viel Goldschmuck behangen. Sie machten einen gut aufgelegten Eindruck, redeten alle durcheinander und übertönten sich gegenseitig. Und sie starrten uns ebenso unhöflich an wie wir sie. Wenn ich bis zu diesem Zeitpunkt geglaubt hatte, dass wir den Afrikanern überlegen seien, so entpuppte sich dies nun als Irrglaube. Diese Leute glotzten uns nämlich an, als wären wir widerliche Insekten oder irgendetwas Undefinierbares, Übelriechendes aus der Gosse. Es hätte gerade noch gefehlt, dass sie sich die Nasen zuhielten. Ich fühlte mich in diesem Augenblick sehr minderwertig, doch die Ereignisse hielten mich davon ab, mich länger mit diesem Gefühl herumzuplagen.
Ein Beamter in Begleitung eines Dolmetschers holte uns ab. Sie erklärten uns, dass unsere Weiterfahrt nach Porto Alegre sich verzögerte und dass wir unterdessen in Rio de Janeiro untergebracht werden würden. Es hatte irgendetwas mit dem Löschen der Ladung zu tun.
Wir fragten nicht weiter nach, denn so ungeduldig wir einerseits waren, unser endgültiges Ziel zu erreichen, so froh waren wir auch, nicht sofort weitersegeln zu müssen. Christel nickte bei den Worten des Beamten, noch bevor sie übersetzt worden waren, eifrig mit dem Kopf, als würde sie jedes Wort verstehen. Sie benahm sich wie eine Musterschülerin, die unbedingt die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich ziehen wollte. Als der Mann zu Ende gesprochen hatte, setzte Christel ihrer Schau die Krone auf, indem sie sagte:
»Obrigada«
– danke.
Der Mann lächelte ihr höflich zu und erwiderte:
»De nada.
«
Wir anderen standen da wie vom Donner gerührt. Nicht nur hatte Christel sich als Erste getraut, ihr einziges an Bord gelerntes Wort auf Portugiesisch anzuwenden, nein, sie war sogar verstanden worden und hatte eine Antwort erhalten! Es war unfassbar. Wir beneideten sie um diese Erfahrung, während wir sie insgeheim auch ein wenig für ihr Strebertum verachteten. Christel sah sich in der Runde um, als erwartete sie, dass wir ihr nun applaudierten. Aber die einzige Reaktion, die sie hervorrief, war die Frage von Hannes: »Und was genau hat der Mann dir geantwortet?« Wir grinsten schadenfroh, als Christel ratlos den Kopf schüttelte.
»Ja was wohl?«, rief der Höhner-Heinz dazwischen. »›Halt’s Maul‹ hieß das.«
Wir grölten darüber herzhafter, als es bei dem kleinen Scherz angemessen gewesen wäre. Der kleingewachsene portugiesische Beamte sah uns an, als wären wir alle übergeschnappt, und er lag damit nicht ganz daneben.
Fortan hütete Christel sich, ihre Klappe so weit aufzureißen. Sie und ihr Mann Franz sowie Hannes und ich blieben in den drei Tagen in Rio de Janeiro meistens zusammen. Gemeinsam erkundeten wir die Stadt, staunten über das bunte Treiben und blieben rätselnd an Marktständen stehen, um exotische Obstsorten zu bewundern. Einmal reichte uns eine Mulattin ein Stück einer Frucht zum Probieren, aber wir lachten nur verlegen und verneinten mit hin- und herwackelndem Zeigefinger. Wir trauten uns nicht.
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