Das Mädchen am Rio Paraíso
Befürchtungen von mir abgefallen. Meine Laune hatte sich deutlich gebessert. Ich hatte nun keine Angst mehr vor den zusätzlichen Belastungen, die auf mich zukamen, sondern freute mich auf unseren Nachwuchs. Ich war meinen Berechnungen zufolge im dritten Monat, aber es war mir noch gar nichts anzusehen, und mittlerweile fühlte ich mich pudelwohl.
Am 30 . Dezember erreichten wir Porto Alegre, den »fröhlichen Hafen«, wie uns jemand den Namen übersetzt hatte. Es handelte sich um die Hauptstadt der Provinz Rio Grande do Sul, die im äußersten Süden des Kaiserreichs lag. Wir hatten uns die Stadt ähnlich imposant wie Rio de Janeiro vorgestellt und waren erleichtert, als wir feststellten, dass sie kleiner und ruhiger war. Aber viel bekamen wir von Porto Alegre ohnehin nicht zu sehen, denn wir wurden praktisch unmittelbar nach unserer Ankunft auf kleinere Boote verfrachtet, die uns nach São Leopoldo bringen sollten.
Bereits auf der Fahrt dorthin, trotz der Brise und der etwas erträglicheren Temperaturen von etwa 35 Grad, schwante uns, was wirklich auf uns zukommen würde. Die Mücken schwirrten in Schwärmen um uns herum. Nach kurzer Zeit waren wir übersät von Stichen. Fremdartige Bäume säumten das Ufer des Flusses, und riesige Vögel, die wir nicht kannten, flatterten auf, sobald unsere Boote in ihre Nähe kamen. Wir erschraken, obwohl doch keiner von uns je durch besondere Schreckhaftigkeit aufgefallen wäre. Bei all den fremden Geräuschen und Düften, Pflanzen und Tieren waren wir äußerst angespannt. Man konnte ja nie wissen, womit man es zu tun hatte. Da waren zum Beispiel große schwarze Vögel mit enormen, vollkommen überproportionierten Schnäbeln, die zudem gelborange leuchteten. Ich wäre nicht gern von einem solchen Geschöpf attackiert worden und bevorzugte es, das Vieh zu verscheuchen, obwohl es nicht einmal annähernd in Reichweite von uns gelangte. Vor lauter nervösem Gewedel sah ich zu spät, was die anderen bereits entdeckt hatten.
An einer Biegung des Flusses war plötzlich ein Kanu aufgetaucht, in dem zwei halbnackte Männer saßen. Indios! Christel stieß einen kurzen Schrei aus, und mir selber blieb fast die Luft weg. Auch unsere Männer wirkten keineswegs so mutig, wie sie sich gerne gaben. Die Indianer ignorierten uns, was uns erlaubte, sie dafür umso genauer zu studieren. Sie hatten ihr Haar in eine kronenartige Form geschnitten und trugen in Lippen und Ohren Schmuck. Ihre Augen waren mandelförmig, ihre Nasen flach. Ihre Oberkörper waren braun, muskulös und völlig unbehaart. Weder wirkten die beiden wie primitive Wilde noch wie feindselige Angreifer. Ich fand sie eigentlich sehr schön, wie sie vollkommen ruhig in ihrem Kanu dahinglitten und sich nicht anmerken ließen, ob sie uns überhaupt zur Kenntnis genommen hatten.
»Späher vom Stamm der Kaingang«, erklärte uns Karl Lehmann, einer der Führer, die unsere Boote von Porto Alegre nach São Leopoldo begleiteten. »Lasst euch von ihnen nicht täuschen. Es sind ganz schön hinterlistige Kerlchen. Sie tun nur so gleichgültig – in Wahrheit sind sie sehr erregt, weil nun weitere Fremde in
ihr
Land eindringen. Als ob nicht genug Platz für alle wäre.«
»Wehren sie sich gegen die neuen Siedler?«, wagte ich zu fragen und erntete prompt einen strengen Blick von Hannes.
»Was heißt hier ›wehren‹?«, empörte Herr Lehmann sich. »Wer sich wehren muss, sind wir. Diese Indianer haben nicht den geringsten Respekt vor unserem Eigentum. Sie stehlen unsere Tiere und plündern unsere Häuser …« Er nahm meine schreckgeweiteten Augen wahr und fuhr in besänftigendem Ton fort: »Nun ja, ganz so schlimm ist es nicht. Meist klappt das Zusammenleben in dieser weitläufigen Region ohne Reibereien. Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen hat es Übergriffe auf die Kolonisten gegeben.«
Mich beruhigte das nicht sonderlich. Während ich noch dachte, dass man mit ein wenig Verständnis für die Sichtweise der Indios doch bestimmt in Frieden würde leben können, rief Hannes aus: »Na, die sollen bloß kommen! Denen werden wir’s schon zeigen, nicht wahr, Klärchen?« Er klang nicht so, als hätte er dabei gegenseitige Rücksichtnahme im Sinn, was mich außerordentlich besorgte.
Ich hoffte nur, dass wir von jedwedem Kontakt mit den Eingeborenen verschont blieben, damit es erst gar nicht zu bösem Blut kommen konnte.
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B ei der einzigen Gelegenheit, da sie jemals das Grundstück von Senhor Raúl verlassen hatte, waren
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