Das Mädchen am Rio Paraíso
Christel hätte es vielleicht gewagt, aber nach ihrer Blamage vom ersten Tag mochte sie sich nun nicht erneut zu weit aus dem Fenster lehnen.
Rio machte uns ein bisschen Angst. Es war so groß, so laut, so chaotisch. Es gab dort eine Vielzahl an vornehmen Geschäften, in denen Waren angeboten wurden, wie man sie weder im Hunsrück noch im Westerwald, wo ja die Gerhards herkamen, je gefunden hätte. Kronleuchter, silberne Federhalter, Porzellan aus Limoges, Kristallkaraffen, opulent geschmückte Hüte, Parfüms, Polsterliegen, teure Portweine und Sherrys, kostbare Juwelen, verruchte Miederwaren – all das betrachteten wir in den Auslagen und fühlten uns unbehaglich dabei. In dieser Welt waren wir fremd. Wir verstanden kein Wort, doch ab und zu hörte man ein paar holländische Silben, die uns dann so etwas Ähnliches wie heimatliche Gefühle vermittelten. Es gab recht viele Holländer, was, wie Franz in Erfahrung brachte, damit zu tun hatte, dass auch die Holländer einst versucht hatten, sich die Kolonie anzueignen, oder jedenfalls Teile davon. Dasselbe traf auf die Franzosen zu, so dass man in den Straßen ein babylonisches Sprachengemisch vernahm.
Viel mehr jedoch machte uns das Klima zu schaffen. Es war unerträglich heiß. Uns lief der Schweiß in Strömen herab. Die hohe Luftfeuchtigkeit machte die Luft beinahe zu schwer zum Atmen. Jede Bewegung artete in Schwerstarbeit aus. Wir sehnten ein Gewitter herbei, als könne es, wie es daheim bei Sommergewittern der Fall war, die Luft abkühlen. Doch als wir dann unser erstes Tropengewitter erlebten, waren wir entsetzt. Es war so heftig, dass wir uns bei den krachenden Blitzeinschlägen und dem Donner, der wie Peitschenhiebe klang, verschreckt aneinanderklammerten. Abkühlung brachte das Gewitter nicht. Im Gegenteil – hinterher dampfte die Erde förmlich, so dass auf dem Schweiß unserer Haut auch noch die nass-klebrige Luft haftete.
Und das alles an Weihnachten. Was keiner von uns je für möglich gehalten hatte, trat bereits hier, vor der eigentlichen Ankunft in unserer neuen Heimat, ein: Wir sehnten uns nach dem Winter. Wir vermissten die Zauberlandschaft mit Eiszapfen und schneebeladenen, schwer herabhängenden Tannenzweigen, wir verzehrten uns nach Christstollen und Marzipanbrot, wir träumten von flackernden Kaminfeuern und festlich dekorierten Räumen. Dass die Realität meist anders ausgesehen hatte, bedachten wir nicht. Hunger und Kälte waren vergessen, nur die schönen Erinnerungen beschworen wir herauf. Weihnachten bei 40 Grad im Schatten, das erschien uns fast wie Gotteslästerung.
Doch die Brasilianer, größtenteils Katholiken, begingen das Fest natürlich auch. Wir hörten Kirchengeläut und sahen gutgekleidete Menschen in die Gotteshäuser gehen. Ich fragte die anderen, ob wir nicht an einer Messe teilnehmen sollten, denn allein hätte ich mich niemals in eine fremde Kirche gewagt. Doch sie lehnten ab. »Da verstehe ja nicht einmal ich etwas«, sagte Christel in einer seltenen Anwandlung von Selbstironie. »Was soll ich in einer katholischen Messe?«, fragte Hannes. Und Franz entschuldigte sich schließlich damit, dass »wir bestimmt alles falsch machen« würden, worin ich ihm im Stillen zustimmte. Man konnte ja nie wissen, was diese Leute hier, Katholiken hin oder her, für sonderbare Rituale hatten.
Als wir das Schiff gen Süden bestiegen und die anderen Reisenden wiedertrafen, erkannten wir in deren Gesichtern dieselbe Betroffenheit wie bei uns. Es war aufregend gewesen in Rio, ja, und es hatte gutgetan, sich nach Monaten auf See einmal Ablenkung zu verschaffen. Doch vieles, was wir gesehen und erlebt hatten, entsprach nicht gerade unseren Vorstellungen vom Paradies.
Der Schreck über diesen ersten Kontakt mit einer Kultur, die uns fremd war, und mit einem Klima, das uns nicht gut bekam, saß tief. Wir waren sehr nachdenklich geworden. Wir Frauen grübelten still vor uns hin, während die Männer ihre Beklommenheit mit großen Reden tarnten. Sie gaben an mit Heldentaten, die noch zu vollbringen waren, und ich hoffte, dass Hannes, einer der lautesten Krakeeler, wenigstens einen Bruchteil dieser eingebildeten Leistungen in die Tat würde umsetzen können.
Die Fahrt verlief sehr ruhig, wir hatten guten Wind und geringen Seegang. Meine Übelkeit hatte sich verflüchtigt. Es war mir egal, ob es Seekrankheit gewesen war oder ein Symptom meiner Schwangerschaft, Hauptsache, es war vorüber. Mit dem Unwohlsein waren auch meine schlimmsten
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