Das Mädchen am Rio Paraíso
sie mit der Kutsche gefahren. Die Entfernung zur Stadt war ihr gering erschienen. Jetzt, da Klara sich zu Fuß auf den Weg gemacht hatte, kam ihr die Strecke endlos vor.
Das erste Stück war sehr hübsch gewesen. Gepflegte, zweigeschossige Häuser ähnlich dem von Senhor Raúl säumten die Straße. Sie waren in freundlichen Farben gestrichen, rosé, gelb, hellblau und weiß, einige waren auch mit alten portugiesischen Kacheln verziert. Schmiedeeiserne Zäune grenzten die Grundstücke voneinander ab, in den Vorgärten waren Blumenrabatten und sauber geschnittene Hecken zu sehen. Die Sonne ging gerade erst auf, und die Stimmung des frühen Morgens gefiel Klara. Das warme Licht der ersten Sonnenstrahlen fiel auf die Pflanzen und verlieh ihnen einen magischen Glanz. Der Himmel nahm eine Färbung an, die von Dunkelviolett über Türkis ging, und die Federwölkchen leuchteten in sattem Orange.
Auch die Luft duftete ganz anders, als sie es später am Tag tat. Sauberer, frischer. Das Vogelgezwitscher übertönte das Geräusch von Klaras Schritten auf den Pflastersteinen, wofür sie dankbar war. Da ihr sehr wenige Menschen begegneten, erschien ihr das Klacken ihrer Holzabsätze in der friedlichen Atmosphäre des Morgens unnatürlich laut. Außer ihr waren nur einige Sklaven auf den Beinen. Ein junges Mädchen, das eine Milchkanne schwenkte, kam ihr entgegen, und in einem der Häuser sah sie durch ein Fenster eine ältere Schwarze, die Kissen aufschüttelte. Ein Knecht hängte den prächtigen Pferden seiner Herrschaft einen Sack mit Futter um. Der Mann schielte kurz zu Klara hinüber, ließ sich aber keine Überraschung anmerken.
Klara verspürte ein diffuses Gefühl von Schuld, als ob sie auf der Straße nichts verloren hätte. Aber was sie tat, sagte sie sich, war nichts, dessen man sich schämen müsste, und schon gar nichts Verbotenes. Es war vielmehr das einzig Richtige. Sie war im Begriff, die Polizei aufzusuchen. Sie würde den Beamten alles sagen, was sie wusste. Sie würde dafür sorgen, so schnell wie möglich zurück nach São Leopoldo gebracht zu werden, zurück zu ihrer Tochter.
Das arme Hildchen, dachte Klara. Eine Halbwaise. Vater tot, Mutter verschollen. Sicher, bei Christel und Franz war die Kleine gut aufgehoben. Aber sie ersetzten gewiss nicht die leiblichen Eltern. Klaras Herz verkrampfte sich vor Sehnsucht nach ihrer Tochter, nach ihrer zarten Haut, ihrem süßen Duft, ihren großen Augen mit den dichten langen Wimpern, die so sehr denen von Hannes ähnelten. Und Hannes? Ja, auch nach ihm verzehrte sie sich, nach dem Hannes, der er bis zu seinem Unfall gewesen war. Den Mann dagegen, zu dem er sich danach entwickelt hatte, konnte sie beim besten Willen nicht betrauern. Wenn sie ganz ehrlich zu sich selber war, erleichterte sein Tod sie sogar.
Ein neuerlicher Schub von Gewissensbissen ließ sie schaudern. Oh Gott, was war sie nur für eine herzlose Person! Vielleicht war doch etwas dran an dem, was Senhor Raúl von ihr annahm. War sie eine Lügnerin? Hatte sie absichtlich alle getäuscht, um noch eine Weile die Fürsorglichkeit Teresas genießen zu können? Nun ja – als die Erinnerung an die Ereignisse der vergangenen Monate zurückgekehrt war, hatte sie es jedenfalls nicht sehr eilig gehabt, heimzukehren. Es war schön, wenn man zur Abwechslung einmal selber bemuttert und gepflegt wurde, wenn man sich keine Sorgen darum machen musste, wovon man am nächsten Tag satt werden sollte, und wenn man nicht bis zur Besinnungslosigkeit schuften musste. Es war ebenfalls schön, einmal der Eintönigkeit ihres Lebens zu entkommen. Tag für Tag für Tag dieselbe Fron, dasselbe Leid, dieselbe Einsamkeit. Da war man dankbar für jede Abwechslung, auch wenn diese wiederum selber von großer Monotonie geprägt war. Im Haus des Senhor Raúl ereignete sich schließlich auch nicht viel Interessantes, dort sah sie ebenfalls immer dieselben Leute, und vor die Tür kam sie so gut wie nie. Aber es war besser als nichts. Es eröffnete ihr neue Sichtweisen, erlaubte ihr Einblicke in das Leben der portugiesischen Oberschicht, die sie sonst nie gehabt haben würde. Und sie lernte sogar noch ein wenig Portugiesisch dabei – eine Herausforderung für ihre Intelligenz, wie sie sie allzu lange vermisst hatte. Nein, sie war weiß Gott nicht erpicht darauf, nach Hause zurückzukehren. Wenn sie nur nicht diese schmerzhafte Sehnsucht nach ihrer Tochter empfunden hätte!
Klara war gedankenverloren immer weiter geradeaus gestapft.
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