Das Mädchen am Rio Paraíso
Die Sonne stand mittlerweile deutlich höher, und ihre Kraft war schon jetzt immens. Klara begann zu schwitzen. Sie betrachtete die Häuser am Straßenrand. Beinahe unmerklich waren die gepflegten Blumenbeete von struppigeren Vorgärten abgelöst worden. Die Häuser waren weiterhin sehr hübsch und zeugten von einstigem Wohlstand, doch je mehr ihr Weg sie nach Süden, Richtung Stadtmitte führte, desto mehr fielen Klara die Anzeichen des Verfalls auf. Farbe, die von den Fensterläden abblätterte; Unkraut, das zwischen den Stufen zur Haustür hervorwucherte; vergilbte Vorhänge an den Fenstern, streunende Katzen, schlechtgekleidete Sklaven. Es war keine besonders schöne Gegend mehr. Merkwürdig, bei der Kutschfahrt war ihr gar nicht aufgefallen, dass es in Porto Alegre auch solche Ecken gab, wobei es hier noch recht bürgerlich aussah. Klara hoffte nur, dass sie sich nicht in Gegenden verirrte, in denen Elend, Schmutz und finstere Gestalten das Straßenbild beherrschten.
Dass die Richtung stimmte, davon war sie überzeugt. Ihr Orientierungssinn war nicht schlecht, und im Dschungel hatte sie gelernt, sich nach dem Stand der Sonne zu richten. Also ignorierte sie die abweisender werdenden Häuserfassaden, die zunehmend ärmlich gekleideten Leute und die bedrückende Stimmung, die über allem lag. Was sollte schon passieren, am helllichten Morgen? Es waren ja bereits genügend Leute unterwegs, so dass Räuber oder andere Missetäter keine Gelegenheit haben würden, sie zu überfallen. Außerdem sah sie gewiss nicht danach aus, als sei bei ihr viel zu holen. Sie trug die Kleidung eines Dienstmädchens, allerdings die eines Dienstmädchens gutsituierter Leute.
Sie kam an einer Bäckerei vorbei. Sie sah zwar nicht sehr einladend aus, doch der Duft frischen Brotes drang aus den Fenstern neben dem Verkaufsraum, wo offenbar die Backstube lag. Erst jetzt merkte Klara, wie hungrig sie war. Sie hatte vor ihrem Fußmarsch nichts gegessen. Und sie hatte nicht eine einzige Münze dabei. Sie hielt die Luft an und lief zügig an der Bäckerei vorbei, um ihren Appetit zu verdrängen. Als sie sich wieder traute durchzuatmen, überfiel sie ein spontaner Würgreiz. Himmelherrgott, was war das für ein bestialischer Gestank? Sie verfiel in einen Laufschritt, um dem Geruch zu entkommen. Doch er wurde immer intensiver. Als sie die nächste Straßenkreuzung erreichte, sah sie die Ursache. Eine Leiche lag an der Hausecke, eine Leiche, die bereits in Verwesung begriffen war. Warum schaffte sie denn keiner hier weg? Der Tote musste doch bereits seit Tagen hier liegen, wenn er derart roch. Klara bekreuzigte sich und lief noch schneller. Gut, dass sie ohnehin schon auf dem Weg zur Wache war und nicht noch einen Umweg machen musste, um den Fund der Leiche zu melden.
In dem ungewohnten Schuhwerk, das man ihr im Haus von Senhor Raúl gegeben hatte, schmerzten ihre Füße. Vielleicht lag es auch gar nicht an den Schuhen, sondern daran, dass sie schon seit Wochen keine längere Strecke mehr zu Fuß gegangen war? Wie auch immer, es wurde höchste Zeit, sich nach einer Wache zu erkundigen, denn mit wunden Füßen, ermüdenden Beinen und knurrendem Magen mochte sie nicht mehr länger weitergehen.
»Polícia?
«,
fragte sie eine Frau mittleren Alters, doch sie erhielt eine so komplizierte Antwort, dass sie hinterher genauso wenig wusste wie zuvor. Die Frau hatte das offenbar auch bemerkt, denn zuletzt fasste sie ihren Wortschwall in einer einzigen Geste zusammen: da entlang.
Klara ging in die gewiesene Richtung. Die Gegend wurde immer übler. Bettler lungerten in den Hauseingängen herum, ein Mann taumelte mit aufgeplatzter Lippe aus einer Schankwirtschaft und fiel, kaum dass er an der frischen Luft war, zu Boden. Klara beeilte sich, an dem besoffenen Kerl vorbeizukommen. Er rief ihr irgendetwas nach, und seinem lüsternen Lachen nach zu urteilen war es nichts gewesen, was sie unbedingt hätte verstehen müssen.
Drei Straßenecken weiter veränderte sich die Gegend erneut. Es wurde eindeutig bürgerlicher. Die Sklaven, die zu so früher Stunde bereits Erledigungen zu machen hatten, sahen besser aus als sie selber. Zumindest fürchtete Klara das, denn sie spürte, dass sie keinen sehr adretten Eindruck machte. Ihre Schuhe waren staubig, unter ihren Armen hatten sich dunkle Schweißflecken gebildet. Und die Leute schauten ihr alle neugierig nach. Aber – so schlimm konnte sie doch nun auch wieder nicht aussehen, oder? Sie hielt kurz vor dem
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