Das Mädchen am Rio Paraíso
Schaufenster eines Barbiers, der noch geschlossen hatte, und betrachtete ihr Spiegelbild. Es schien alles so weit in Ordnung zu sein. Es lugten keine Haarsträhnen vorwitzig unter der Haube hervor, ihr Kleid war intakt und wies keine auffälligen Flecken auf, und ein Tuch, das sie sich um die Schultern gelegt hatte, vervollständigte den Eindruck der Rechtschaffenheit. Für ein loses Frauenzimmer konnte sie also auch niemand halten.
Klara wandte sich erneut an eine Frau mittleren Alters, um nach dem Weg zu fragen:
»Polícia?«
Die Frau antwortete nicht gleich, sondern, das erkannte Klara an der Satzmelodie, stellte ihr eine Frage. Natürlich verstand sie sie nicht. Sie hob fragend die Schultern.
Die Frau lächelte, legte ihre Hand um Klaras Oberarm und gab ihr zu verstehen, sie möge ihr folgen. Sie waren kaum einen halben Häuserblock gegangen, als sie vor einer Polizeiwache standen. Klara atmete auf. Die Frau fragte sie erneut etwas, und wieder konnte Klara nur mit Verständnislosigkeit reagieren. Die Frau plapperte etwas, gab Klara einen gutgemeinten Schubs in Richtung Torbogen und begleitete sie hinein.
»Diese Frau hier hat sich offenbar verirrt«, sagte die Frau zu dem Mann, der hinter einem Empfangstresen stand. »Ich glaube, sie spricht unsere Sprache nicht. Haben Sie hier einen Dolmetscher? Oder irgendjemanden, der zumindest herausfinden kann, welche Sprache sie spricht?«
Der Beamte lachte höhnisch. »Einen Dolmetscher? Ha, schön wär’s, wenn wir es mal nicht immer mit besoffenem Lumpenpack zu tun hätten, das nur eine Sprache versteht, nämlich die des Schlagstocks.« Er hielt kurz inne und besah sich die Ausländerin.
»Wie ein verkommenes Weibsstück sieht sie ja nicht gerade aus. Wo haben Sie sie denn aufgegabelt?«
»Sie lief durch die Avenida Nossa Senhora da Paz, und ich habe sie nicht aufgegabelt, sondern sie hat mich angesprochen und nach dem Weg zur nächsten Wache gefragt.«
»Ah!«, trumpfte der Polizist auf. »Eben hieß es aber doch noch, sie könne kein Portugiesisch.«
»Hören Sie,
tenente.
Ich habe keine Zeit, Ihnen das alles zu erklären. Aber ein paar Brocken unserer Sprache kann die junge Frau anscheinend schon, und damit wird sie Ihnen jetzt selber schildern, was passiert ist. Ich muss nämlich weiter, ich bin sowieso schon viel zu spät dran.« Damit tätschelte die Frau aufmunternd Klaras Hand und verabschiedete sich von ihr.
Der Polizist sah Klara erwartungsvoll an. Das versprach spannend zu werden. Mit Ausländern hatte er auf diesem Revier sonst nie zu tun – schon gar nicht mit so hübschen.
Klara räusperte sich. Den Wortwechsel zwischen der hilfsbereiten Frau und dem Beamten hatte sie nicht verstanden, aber was der Polizist jetzt von ihr wollte, war klar.
»
Meu nome
Klara Wagner«, radebrechte sie.
»Ah, das ist doch schon mal etwas«, freute sich der Mann. Er nickte ihr freundlich zu.
»Alemã«, erklärte sie weiter.
»Eine Deutsche, hab ich’s mir doch gedacht.« Der Polizist musterte Klara anerkennend von Kopf bis Fuß. »Sie kommen doch bestimmt aus der Colônia Alemã de São Leopoldo, nicht wahr?«
Klara nickte mehrmals. Was für ein Segen, dass sie hier war und es mit einem verständigen Beamten zu tun hatte! Da er ja nun ihren Namen und ihren Wohnort kannte, würde er sich den Rest wahrscheinlich selbst zusammenreimen können. Sie würde nicht mit ihrem Wörterbuch herumhantieren müssen, würde sich nicht dadurch blamieren, dass sie komplizierte Sachverhalte in einfachsten Sätzen wiedergeben musste. Als Polizist wusste der Mann ja sicher Bescheid.
»Und wie darf ich Ihnen behilflich sein, Senhorita Clara?«
Was fragte er denn da noch? Himmel, war das zu fassen? Er schien nicht zu begreifen. Klara wies auf sich, dann tippte sie sich an die Stirn und sagte:
»Amnesia.«
»Wie, Sie wollen Ihr Gedächtnis verloren haben? So schlimm kann es aber doch gar nicht sein, oder, wenn Sie noch Ihren Namen und Ihre Adresse kennen? Und glauben Sie mir, junge Frau, die meisten Dinge sind es eh nicht wert, dass man sie in Erinnerung behält.« Er lachte schallend, und Klara fragte sich, was daran so komisch sein sollte, dass ihr dieses Missgeschick widerfahren war. Sie blickte verletzt drein, woraufhin der Mann aufhörte zu lachen.
»Marido morto«,
stammelte sie weiter. Es war ihr sehr unangenehm, sich nicht besser ausdrücken zu können. Wenn sie an der Stelle dieses Wachtmeisters gewesen wäre und eine fremdländisch aussehende Frau hätte etwas von
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