Das Mädchen am Rio Paraíso
getrieben. Vorerst jedoch hatten wir die vorletzte Parzelle an diesem Weg, hinter uns kamen nur noch Christel und Franz Gerhard und dann gar nichts mehr. Undurchdringlicher Dschungel. Allerdings waren auch unsere Grundstücke weiterhin Urwald, denn erst im Laufe der Zeit, so hatte man uns erklärt, würden wir das alles abholzen und beackern können. Es lohnte nicht, so hieß es, gleich alles zu roden, denn der Urwald wüchse in einer so rasanten Geschwindigkeit nach, dass wir uns unnötige Arbeit machten.
So hatten wir also ein kleines Stück freigelegt, auf dem unsere Hütte, unsere Kuh und das Federvieh Platz hatten und auf dem wir außerdem die erste Saat ausbringen konnten. Hierbei würden wir erneut die »Alteingesessenen« konsultieren müssen, denn wir hatten nicht die geringste Ahnung, wie man Maniok und Zuckerrohr anpflanzte. Wir kannten nichts anderes als Kartoffeln und Rübenzucker.
Zunächst jedoch hatten wir ja die Vorräte, die man uns bei der Ankunft gegeben hatte und von denen wir zehren konnten: Maniokmehl, Zucker, Reis, schwarze Bohnen, Linsen, Speck, Trockenfleisch, Salz, Öl, Kaffee, Dörrobst, Tabak. Wasser gab es im Überfluss, desgleichen Fische und frisches Obst – wobei wir uns natürlich nicht trauten, uns unbekannte Nahrungsmittel zu verzehren.
Am ersten Abend, den wir in unserer Hütte verbrachten, öffneten wir die große Truhe, in der unser Hausrat verstaut war. Ich brauchte die Töpfe, um unser Abendessen auf der primitiven Kochstelle zuzubereiten. Zuoberst jedoch lag die Fiedel, die uns hier, in unserer provisorischen Behausung mitten im Dschungel, vollkommen fehl am Platz erschien. Dennoch löste ihr Anblick in mir eine Wehmut aus, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte. Ich dachte an die geselligen Abende daheim, als wir in großer Runde musiziert und gesungen hatten, und verglich sie mit der augenblicklichen Situation: Hannes und ich, mutterseelenallein im Wald, erschöpft bis zum Umfallen von der Arbeit des Tages. Nach Singen stand uns wirklich nicht mehr der Sinn, wir wollten nur noch essen und uns schlafen legen.
Ich verbot mir sämtliche gefühlsduseligen Anwandlungen und fahndete in der Kiste nach dem Kochgeschirr. Irgendwann hatte ich zwei Töpfe mittlerer Größe entdeckt und zog sie scheppernd hervor. Meine Hände brannten wie Feuer, doch vor lauter Hunger vergaß ich die Schwielen, die ich mir beim Errichten der Hütte zugezogen hatte. Ich pustete kurz in die Töpfe, um sie von Staub zu befreien. Dann ging ich nach draußen, um vom Bach, der durch unser Grundstück floss, Wasser zu holen.
Ich schlotterte vor Angst. Das Zirpen und Zwitschern, Pfeifen und Kreischen, das ich allenthalben vernahm, war mit nichts vergleichbar, was ich kannte. Zu Hause hatte es selbst in schwülen Sommernächten nie so geklungen. Es war, als sei der Dschungel selber ein gefährliches Tier, das nur darauf lauerte, einen in der Dunkelheit anzufallen.
»Hannes, begleitest du mich?«, bat ich meinen Mann. Aber der war bereits im Sitzen eingeschlafen.
Ich machte mich also allein auf den Weg, der zwar nicht weit, deswegen aber nicht weniger furchteinflößend war. Ganz kurz stellte ich mir die Frage, ob ich überhaupt noch etwas kochen sollte, denn ich hätte sowohl auf die Mühe als auch auf die Nahrung verzichten können. Doch dann sagte ich mir, dass wir ja spätestens beim Aufwachen froh darüber wären, nicht noch lange warten zu müssen, bis etwas Essbares zubereitet wäre. Ich würde noch am Abend einen Eintopf aus Bohnen und Speck kochen, auf den wir uns am Morgen stürzen konnten. Mit ein wenig Glück hätten wir auch ein paar Eier, aber auf unsere mageren Hühner allein wollte ich mich nicht verlassen.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, schnappte mir einen großen Eimer und stapfte über das Wurzelwerk, das unserer Rodung nicht zum Opfer gefallen war. Ein paarmal strauchelte ich, doch immerhin fiel ich nicht hin. Erstmals an diesem Tag dachte ich an das arme unschuldige Wesen in meinem Bauch. Dass harte körperliche Arbeit ihm schaden könnte, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Aber ob dieses nächtliche Gegrusel ihm gut bekam? Am Bach angekommen, gelang es mir trotz meiner Furcht, den Eimer zu füllen, ohne auszugleiten. Bei noch immer mindestens dreißig Grad überkam mich eine Gänsehaut – ich fühlte mich von tausend Paar Augen beobachtet. Ein wüstes Schreien ließ mich zusammenzucken. Wahrscheinlich war es nur ein Affe, dennoch ging mir das Geräusch durch Mark
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