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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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wirklich ausnehmen zu können, und ging wieder vor die Tür.
    Der
jacaré
war verschwunden.
    Ich bekam eine Gänsehaut. Es war also keine Einbildung gewesen – irgendjemand hatte sich ganz in der Nähe aufgehalten und praktisch geräuschlos dieses schwere Tier entfernt.
    »Hannes?«, rief ich, erhielt aber keine Antwort.
    »Hannes? Sei nicht albern, bring das Vieh wieder her. Du machst mir Angst!«
    In der Entfernung vernahm ich ganz leise das typische sausende Geräusch, das entstand, wenn die Machete das hohe Wildgras durchtrennte. Hannes war demnach noch auf dem Feld. Und ich war völlig auf mich gestellt. Ich schloss meine Hand fester um den Griff des Messers – zwar bibberte ich vor Angst, aber kampflos wollte ich mich keineswegs ergeben. Allerdings war niemand zu sehen, der mich hätte überfallen wollen, was die Sache noch viel unheimlicher machte. Einen sichtbaren Gegner konnte man wenigstens einschätzen, man konnte sich zur Wehr setzen oder um Hilfe schreien. In diesem Fall stand ich jedoch einem Feind gegenüber, der gar nicht zu existieren schien. Sollte ich die Bäume anschreien? Auf die Erde einschlagen? Hannes von der Arbeit wegrufen, damit er mich aus der tödlichen Gefahr heißer Luft befreien konnte?
    Ich hatte sehr zwiespältige Gefühle in diesem Augenblick. Während sich einerseits die vage Befürchtung in mir regte, ich könne allmählich dem Wahnsinn anheimfallen, wusste ich doch gleichzeitig mit absoluter Gewissheit, dass da jemand gewesen war. Der Krokodilkadaver war fort, und den hatte ich ja nun selber hierhergeschafft. Geträumt hatte ich diese Episode ebenfalls nicht, die Schleifspuren waren der beste Beweis.
    Die Schleifspuren! Weshalb waren keine zu erkennen, die von der Stelle wegführten? Mir liefen kalte und heiße Schauer über den Rücken. Ich fürchtete mich erbärmlich. Hatte sich womöglich ein Raubtier meine Beute geschnappt? Das würde erklären, warum ich nichts davon mitbekommen hatte. Es lieferte mir allerdings immer noch keine Erklärung dafür, warum ich mich beobachtet gefühlt hatte. So schlau war doch kein Tier, dass es vor seinem Raubzug überprüfte, ob der rechtmäßige Besitzer der Beute gut abgelenkt war? Und so stark war auch kein Tier, dass es das Krokodil mit den Zähnen packen und fortschleppen konnte, oder doch? Gab es hier vielleicht Bären oder ähnlich riesenhafte Geschöpfe, deren Kieferkraft allein ausreichte, einen
jacaré
wegzutragen?
    Ich gruselte mich derart, dass ich nicht mehr vor die Tür gehen mochte, und schrak erst aus meinen Überlegungen hoch, als Hannes von der Feldarbeit zurückkam.
    »Hier waren heute Diebe«, empfing ich ihn.
    »Ah ja.« Er zog sein durchgeschwitztes Hemd aus, warf es in eine Ecke, in der ich es später würde einsammeln dürfen, und wirkte nicht so, als hätte er mich überhaupt gehört.
    »Diebe!«, wiederholte ich.
    Er warf mir einen fragenden Blick zu und runzelte die Stirn.
    »Sieh mich nicht so an, als ob ich von allen guten Geistern verlassen wäre. Wenn ich dir doch sage …«
    »Und was haben sie gestohlen?«
    »Den
jacaré.
«
    »Welchen
jacaré?
«
    »Den ich gestern am Bach erwischt habe.«
    »Davon hast du mir ja gar nichts erzählt.«
    »Nein. Wahrscheinlich war ich zu müde oder hatte es vergessen oder so.«
    »Das vergisst man doch nicht, wenn man eines von diesen Biestern erlegt«, sagte Hannes, während er sich von mir abwandte, zum Wasserkrug ging und sich einen Becher voll eingoss. Dass unser Wasser braun war, störte uns schon lange nicht mehr, wir tranken es inzwischen bedenkenlos und in großen Mengen, auch ohne es vorher abzukochen, wie es uns geraten worden war.
    »Ach, Hannes, das ist doch jetzt auch egal. Glaub mir einfach: Ich hatte das Vieh getötet, und heute habe ich es hier heraufgehievt, weil ich dachte, dass man es ja vielleicht essen kann.«
    »Igitt.«
    »Na ja, ich wollte es halt mal versuchen. Mehr, als dass wir das ungenießbare Fleisch zurück in den Bach schmeißen müssen, hätte ja nicht passieren können, oder?«
    Er nickte, sah mich dabei aber mitleidig lächelnd an.
    »Ja, und dann bin ich reingegangen, um das Messer zu wetzen, und als ich wieder rauskam, war der
jacaré
weg.«
    »Aha. War er vielleicht gar nicht erst dort gewesen?«
    »Hannes, bitte, du musst mir glauben. Schau doch selber nach, die Schleifspuren vom Bach herauf kann man noch erkennen.«
    Er schüttelte den Kopf wie einer, der ein sinnloses Streitgespräch nicht fortsetzen wollte, weil ihm sein

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