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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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bewegen müssen, denn dann gab es immer Ruhe, aber ich war zu müde, um irgendetwas zu tun. Stattdessen überschwemmten mich die übelsten Befürchtungen. Was, wenn die Geburt nicht normal verlief? Hier im Busch gab es keine Ärzte oder Hebammen, und die Nachbarn wohnten zu weit entfernt, als dass man sie in der Stunde der Not schnell herbeiholen konnte. Was, wenn das Kind nicht gesund zur Welt kam? Wenn es körperlich oder geistig verkrüppelt war? Es war unvorstellbar, zu all unseren Sorgen und Schwierigkeiten auch noch ein Kind zu haben, das uns nicht uneingeschränkt Freude machte. Was, wenn ich die Niederkunft nicht überlebte? Hannes würde allein kaum zurechtkommen. Und ich selber hatte, bei aller Schwermut, die mich manchmal überfiel, nun wirklich keine Todessehnsucht. Ich wollte noch nicht sterben!
    Dann kamen die zweitrangigeren Bedenken: Wenn es nun ein Mädchen wäre? Wenn es hässlich oder dumm wäre oder sogar beides? Wenn es schwächlich wäre? Und, beinahe die bangste Frage von allen: Würde das Kind, egal ob Junge oder Mädchen, aussehen wie wir? Oder würde es vielmehr, da es ja in Brasilien geboren wäre, südländisch aussehen? Von allen Einwandererfrauen, die ich kannte, war ich die erste, die in der neuen Heimat ein Kind gebären würde, und man hatte bisher keinerlei Erfahrung damit, wie sich der Geburtsort auf die Hautfarbe auswirkte. Würde ich ein kleines Indio-Kind bekommen? Das war unausdenkbar! Aber nein, die Kinder ähnelten doch entweder Vater oder Mutter oder doch zumindest Großvater oder Großmutter, nach allem, was ich bisher gesehen und gelernt hatte. Bei Bäcker-Pauls Gerhard war das zwar anders gewesen, denn der hatte mehr ausgesehen wie der Müller aus Hahnenfeld, aber solche Unwägbarkeiten musste man wohl einfach hinnehmen – solange die Kinder denn wenigstens aussahen wie hunsrückische Kinder.
    Erschwerend kam hinzu, dass die gesamte bisherige Schwangerschaft überschattet war von meinen fürchterlichen Phantasien und Hirngespinsten und Ängsten. Was ich in meinem Brief geschrieben hatte – der Brief, schoss es mir kurz durch den Kopf, wie weit der es nun wohl schon geschafft hatte? –, war frei erfunden gewesen. Ich war alles andere als frohgemut. Das Einzige, was stimmte, war, dass ich glaubte, meine Seelenlage würde auf das Kind abfärben. Ich wollte aber kein verhuschtes, ängstliches oder trauriges Kind haben. Ich wollte, dass es fröhlich, mutig und stark war – so wie ich selber es als Kind gewesen war. Aber: War ich denn als Kind tatsächlich so gewesen? Ich wusste es nicht mehr. Wie lange das alles her war!
    Das Wissen darum, wie undankbar ich war, verursachte mir weitere Schuldgefühle. Hier saß ich nun, im eigenen Haus, auf dem eigenen Grund und Boden, gerade einundzwanzig Jahre alt, satt, schwanger und mit einem hübschen Mann verheiratet, der in der Hängematte schnarchte. Ich hatte alles, wovon ich immer geträumt hatte.
    Und ich fühlte mich so verbraucht und so verlassen wie nie zuvor in meinem Leben.

[home]
28
    S ie zogen zunächst ihre Schuhe aus, um sie von eingedrungenem Wasser und Schlamm zu befreien. Weder Klara noch Raúl sprachen ein Wort. Beide verwünschten diesen Tag, die Bootsfahrt und die Lage, in der sie sich nun befanden. Diese
misslich
zu nennen wäre eine grandiose Beschönigung gewesen. Es war eine furchtbare Situation. Mitten im Dschungel festzusitzen, wissend, dass man die Nacht unter freiem Himmel würde verbringen müssen, war mehr als beängstigend. Es war lebensbedrohlich. Sie hatten kein Zelt und nun auch keine Pistole mehr. Raúl hatte im Stiefelschaft zwar noch ein Messer versteckt, aber das war nur ein geringer Trost. Wenn ein Jaguar sie angriff, dachte Klara, würden sie nur noch beten können.
    Doch zunächst mussten sie marschieren, was nicht minder grässlich war. Es gab keinen Pfad. Das Buschwerk war so dicht, dass sie sich einen Weg schaffen mussten, den auch das Pferd passieren konnte. Sie kamen nur äußerst langsam voran, schweigend und vor Anstrengung keuchend. Sie bogen Zweige beiseite, trampelten kleinere Pflanzen nieder, brachen Äste ab, schoben Lianen fort und schnitten besonders störrische Büsche mit dem Messer ab. Es war schattig, heiß und feucht. Ein intensiver, modriger Geruch lag in der Luft. Insekten schwirrten um sie herum und piesackten sie. Ihre schwitzenden und von Kratzern übersäten Leiber mussten ein Festmahl für die Mücken sein.
    »Ich glaube, wir vergeuden hier unsere Zeit. Wir

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