Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
nicht, es ist an der Zeit?«
An der Zeit, zu gehen? Die Furcht, die vorhin ausgeblieben war, überfiel ihn jetzt kalt.
»Ein halbes Jahr Prüfungszeit erweist sich in der Regel als ausreichend – sowohl für den Postulanten als auch für die Gemeinschaft, die seine Aufnahme erwägt. Wie steht es bei dir? Haben dir die sieben Monate nicht genügt, um deinen einstmals gefassten Entschluss zu überdenken?«
»Doch.«
»Also bitte. Ich höre.«
Sollte er dem Guardian seine Entscheidung mitteilen, ehe dieser ihm sagte, was das Kloster über ihn entschieden hatte? Wollte man ihn auf diese Weise tiefer als notwendig demütigen? Aber was wusste er denn? Vielleicht war es notwendig. Dort draußen, am Waldrand hinter den Roggenfeldern, hatte er begriffen, dass er leben wollte, und in den Nächten danach, im Georgen-Hospital, hatte er Menschen gesehen, die es auch wollten, obgleich an ihren verfallenen Leibern nichts mehr war, das zum Leben Kraft besaß. Was immer es erforderte und auch wenn er selbst nichts mehr spürte, er würde um das Leben, das übrig war, ringen. Er biss auf das Pfefferkorn. »Ehrwürdiger Vater, ich bitte um meine Aufnahme in den Orden der Minderen Brüder«, sagte er.
Ruhig suchte der andere seinen Blick. »Du bist dir sicher?«
»Ich weiß, ich bin nicht das, was man von einem guten Franziskaner erwartet«, brach es aus Thomas heraus. »Ich habe auch hier unter Euch nicht gelebt, wie man es von einem guten Franziskaner erwartet …«
»Nein, das hast du wohl nicht.« Pater Martinus musste die Stimme erheben, um ihn zu unterbrechen. »Du bist durch diese Stadt gestreunt wie ein räudiger Hund, und dein Freiheitswille hat sich gegen jeden Zügel gesträubt. Aber willst du hören, was ich von einem guten Franziskaner erwarte? Nicht, dass er bereits gehorsam und demütig geboren ist und arm und keusch obendrein. Sondern dass er sich innig wünscht, die Nachfolge des heiligen Franziskus anzutreten, auch wenn es Kampf und Mühsal bedeutet. Dass er sich einsam genug fühlt, um sich mit seinem ganzen Sein nach Gottes Nähe zu sehnen.«
Thomas war sprachlos. Als der Franziskaner ihm mit einer Geste noch einmal bedeutete, sich niederzusetzen, gehorchte er.
»Ich habe heute in der Frühe über dich gesprochen. Mit Pater Gregorius vom Georgen-Hospital. Ich habe ihn gefragt, ob die Männer, die wir ihm gesandt haben, ihm von Nutzen waren, und er hat erzählt, er habe dich mit der Suppe für die Aussätzigen hinüber zum Leprosenhaus geschickt. Du hättest die Regeln zu deinem Schutz, die er dir genannt hat, nicht beachtet. Den Suppenkessel hättest du nicht, wie angewiesen, vor der Tür abgestellt, sondern wärst zu den Kranken hineingegangen und hättest die Nacht bei ihnen verbracht.«
»Ich habe niemanden berührt«, verteidigte sich Thomas.
»Ist das die Wahrheit?«
»Nein.«
Über Pater Martinus’ Gesicht zuckte ein Grinsen. »Darf ich erfahren, warum du dich dem Verbot widersetzt hast?«
Die Worte waren ausgesprochen, ehe er sich hindern konnte: »Weil ich mir einmal gewünscht habe, jemand möge sich einem Verbot widersetzen und mich berühren.«
Pater Martinus nickte und schwieg.
»Muss ich mich dafür hier zur Bestrafung melden?«, fragte Thomas kalt. »Oder bei Pater Gregorius?«
»Bei niemandem«, erwiderte der Guardian. »Weder Pater Gregorius noch ich bestrafen einen Mann dafür, dass er seinem Gewissen folgt. Wir brauchen Männer, die ihre Kämpfe nicht uns überlassen, sondern sie mit Gott und sich selbst austragen. Und wenn wir bedenken, wie die Lage zwischen König und Heiligem Vater sich zuspitzt, brauchen wir dringender denn je Männer, die zuweilen als Christenmenschen das Herz aufbringen, sich einem Verbot zu widersetzen. In der Nachfolge Jesu. In der Nachfolge des heiligen Franziskus.«
»Heißt das, Ihr erlaubt mir zu bleiben?«
»Wir wünschen uns, dass du bleibst«, erwiderte Pater Martinus. »Wir würden, wenn es so kommt, gern sehen, dass du deine außerordentliche Bildung nutzt und um das Studium der Theologie erweiterst. Damit erhieltest du die Befähigung, eines Tages in unser Terziarenhaus einzuziehen und den Städtern als Seelsorger zur Seite zu stehen. Wärst du willens und bereit, einen solchen Weg einzuschlagen?«
Beschämt von der Größe der Gabe senkte Thomas den Kopf. »Ja, mein Vater.«
»Sehr gut. Dann werden wir von heute an dafür beten, dass Gott dich in deinem Entschluss bestärkt.«
»Aber mein Entschluss steht fest!«, rief Thomas.
»Dieses
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