Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
hingegen«, entgegnete der Pater, »ist ein Punkt, an dem wir uns des Zweifels nicht erwehren können.«
»Ich habe Euch doch gesagt …«
»Still!«, gebot ihm Pater Martinus. »Was du mir gesagt hast, habe ich gehört, und dass du zur Lüge nicht fähig bist, hast du gerade erst erneut bewiesen. Ich bin überzeugt, dass du jedes deiner Worte aufrichtig meinst. Ebenso überzeugt bin ich aber, dass du einem Teil von dir das Wort verbietest, und zwar so streng, dass sogar ein Zisterzienser vor dir leichenblass würde.«
»Und was für ein Teil soll das sein?«
»Der, den es mit aller Kraft deiner fünfundzwanzig Jahre zurück nach draußen, in die Welt zieht. Der Teil, der sich so sehr sehnt, dass er vor lauter Schmerz schon gar nichts mehr spürt. Nein, reiße noch nicht den Schnabel vor Empörung auf. Mir ist nun einmal bekannt, dass du nicht wie ich schon als Kind zum Krüppel geworden bist und die Fähigkeit verloren hast, ein Leben als Mann in der Welt zu führen.«
»Ich habe die Fähigkeit auch verloren. Was das betrifft, bin ich ein Krüppel wie Ihr.«
Der Pater stand auf und kam in seinen steifen Schritten zu ihm. Als Thomas ebenfalls aufstehen wollte, gebot er ihm, sitzen zu bleiben, stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hand auf den Rücken, zwischen die Schulterblätter. Thomas fuhr zusammen. Wie von selbst wölbte sein Rücken sich vor, um der Berührung auszuweichen. »Dass du das glaubst, weiß ich«, sagte der Pater. »Und ich denke, ich kenne auch den Grund.«
»Ja, den kennt Ihr, denn ich habe ihn Euch am ersten Tag anvertraut«, fuhr Thomas auf. Gewiss hatte er damals keine Einzelheiten erzählt, doch die näheren Umstände in einem Fall wie dem seinen herauszufinden, war ein Leichtes für einen Mann von Pater Martinus’ Stand. »Steht Ihr jetzt hier, um mir daraus einen Strick zu drehen?«
Der Pater tappte ihm auf den Hinterkopf, wie man ein Kind schlägt, wenn man es eher mahnen als strafen will. »Dummkopf«, sagte er. »Ich stehe hier, um dir zu sagen, dass deine geschätzte Sicht nicht die einzige ist, mit der man die Welt betrachten kann. Nimmt nicht der größte Teil der Menschheit an, ein Aussätziger sei widerwärtig und aus Gottes Angesicht verstoßen? Und teilst du diese Annahme? Hast du sie geteilt, als du gestern Nacht einen Aussätzigen in deine Arme zogst, damit er beim Sterben einen menschlichen Herzschlag hören konnte? Sag es mir, Thomas, der nicht lügen kann – war der Mann dir widerwärtig? Hast du gedacht, er sei Gott verhasst?«
»Nein«, murmelte Thomas und hielt seinen stocksteifen Rücken, den jede Berührung quälte, unter der Hand des Paters still.
»Wie war es dann?«
»Ich habe gar nichts gedacht«, presste er heraus. »Ich wollte ihn bei mir haben.«
»Aha. Und dass ein Menschenherz auf dich genauso blickt, hältst du für ausgeschlossen? Du bist ein Entehrter, ein wegen Notzucht Verurteilter, widerwärtig und aus dem Angesicht Gottes verstoßen. Als einen Menschen darf dich niemand mehr betrachten?«
»Gibt es ein abscheulicheres Verbrechen als Notzucht?« Er schrie beinahe auf, als der Schmerz in seinem Rücken regelrecht explodierte. »Ich selbst hätte eine solche Bestie mit keiner Kneifzange angefasst. Mit einem Dieb hätte ich mich vielleicht an einen Tisch gesetzt, sogar mit einem Betrüger, aber niemals mit einem, der Frauen schändet, der einem Mädchen Gewalt antut und ihr die Zukunft raubt!«
»Und tust du das?« Pater Martinus’ Hand hielt auf seinem Rücken inne. »Schändest du Frauen? Willst du wirklich von mir, dass ich dir derlei zutraue?«
Thomas starrte zu Boden und schwieg.
»Antworte mir!«, herrschte der Pater ihn an.
Er schluckte trocken, musste sich räuspern, ehe sich ein Wort aus seiner Kehle zwängen ließ. »Offenbar ist es mir zuzutrauen«, war alles, was er herausbekam.
»Jetzt begreife ich«, sagte Pater Martinus und fuhr fort, ihm den Rücken zu streicheln. »Jemand hat ein Urteil über dich gefällt, das dich entsetzlich schmerzt. Also gehst du kein Wagnis mehr ein und erlaubst keinem anderen, sich sein Urteil zu bilden. Um ganz offen zu sein – das ist ein bisschen feige, oder nicht?«
»Ja«, gestand Thomas überrumpelt ein.
»Und das liebreizende Mädchen, mit dem du durch die Tage des Sommers getollt bist, darf deshalb nie erfahren, wer du bist, was du getan oder nicht getan hast und wie du dafür bestraft worden bist. Ein Urteil ist ihr verboten, denn ihr Urteil glaubst du ja zu kennen. Ein Gericht hat
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