Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
Verzierung auf. Vor seinen Zügen hätte Magda gern innegehalten wie vor den Tieren auf den Wandteppichen.
»Ihr seid Magda«, sprach der Herr langsam, wie zu sich selbst, vor sich hin. »Ich muss gestehen, das Bild, das ich mir von Euch gemacht habe, sah ein wenig anders aus. Nichtsdestotrotz – habt Dank, dass Ihr gekommen seid.«
Verwirrung drohte Magda zu übermannen. Weshalb hatte dieser Mann sich ein Bild von ihr gemacht? Dass er klagte, weil sie dem Bild nicht entsprach, erschien ihr rüde. Wessen Bild entsprach sie schon, Magda, die deftig Verwürzte, der schäbige Krautkopf aus Bernau? »Dafür habt Ihr mir nicht zu danken«, erwiderte sie patziger als gewollt. »Ich bin gekommen, weil ich Eure Hilfe brauche.« Sie zog das Papier aus ihrem Beutel und hielt es ihm entgegen. »Ein Verwandter von Euch hat mir dies gegeben«, erklärte sie, denn daran, dass die beiden blutsverwandt waren, konnte kein Zweifel bestehen. »Er hat mir gesagt, in einem Notfall solle ich mich an Euch wenden und Euch ausrichten, das sei der Preis, um den Ihr ihn gebeten habt.«
Mit aufmerksamen Augen begegnete der Mann ihrem Blick, ehe er ihr den Fetzen aus der Hand nahm. »Das stammt von einem Brief, den ich meinem Sohn geschrieben habe«, sagte er leise. »Bitte tretet ein. Ich habe mir in meinem Leben nichts so verzweifelt gewünscht, wie diesen Preis bezahlen zu dürfen. Wenn ich Euch behilflich sein könnte, wäre ich unendlich froh.«
Afra zog sich unauffällig zurück, während Herr Clewin Magda in das Zimmer führte. Es war ohne Zweifel der behaglichste Raum, den sie je betreten hatte. Bei einem Tischchen aus rotem Holz bot er ihr einen mit Samtkissen gepolsterten Stuhl an und nahm selbst in dessen Gegenstück Platz. Auf dem Tisch wartete eine Karaffe aus grünlichem Glas, die ein Vermögen wert sein musste. Der Wein darin schillerte, als wäre seine Oberfläche geschliffen worden.
»Sie besucht mich manchmal«, erklärte Herr Clewin in Gedanken. »Mich und Hidalgo, die Zurückgebliebenen. Sie ist ein so gutes Kind, und Ihr Gatte, der Herr Fridrich, ist ebenso gut und verwehrt es ihr nicht, obwohl ihm jede Einzelheit unserer Geschichte bekannt ist. Ich nehme an, Euch ist sie ebenfalls bekannt?«
»Nein«, erwiderte Magda. »Kein Wort.« Sie schluckte mit knochentrockener Kehle, dann fügte sie hinzu: »Und ich bin auch nicht hergekommen, um Geschichten zu hören.«
»Nein.« Herr Clewin nahm einen halb gefüllten gläsernen Kelch vom Tisch und starrte in den Wein. »Natürlich nicht. Bitte sprecht, lasst mich wissen, was ich für Euch tun kann.«
Ehe Magda anhob, stand er auf und entnahm einem Spind einen zweiten Kelch. Ohne zu fragen, füllte er ihn und hielt ihn ihr hin. Sie war nicht sicher, ob sie aus einem derart zerbrechlichen Gefäß trinken konnte, und außerdem hatte sie seit dem vergangenen Abend nichts gegessen. Magda nahm den Kelch trotzdem entgegen, wenn auch nur, um sich daran festzuhalten. »Ist Euch zu Ohren gekommen, was gestern in der Marienkirche von Berlin geschehen ist?«
Herr Clewin nickte. »Solche Nachrichten werden zum Lauffeuer, noch ehe man fähig ist, sie zu begreifen, nicht wahr?«
Magda gab darauf keine Antwort. »Wenn der Papst in Avignon die Stadt Berlin für schuldig befindet, wird über sie der Kirchenbann verhängt«, sagte sie stattdessen. »Die Folgen für Berlin sind unabsehbar, weshalb der Rat diese Bestrafung um jeden Preis verhindern will. Deshalb braucht er einen Einzeltäter, den er der Geistlichkeit zu deren Genugtuung anbieten kann. Einen Sündenbock.«
»Ist es so nicht immer?« Clewin Alvensleben blickte auf. »Wo Unglück ist, suchen wir Schuld, und wo Schuld ist, suchen wir einen, der sie trägt. Wir haben nicht gelernt, unserem Unglück auf andere Weise ins Auge zu sehen.«
Das Gerede des Mannes war Magda zu hoch – wie sein Haus voller zierlicher Kleinodien und sein Wein aus Glasgefäßen. »Der Sündenbock ist mein Bruder!«, brach es aus ihr heraus. »Diether Harzer, Brauerssohn, einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt – in unseren Kreisen rechnet so genau keiner mit. Um die Wahrheit zu sagen, ist Diether ein grässlicher Faulpelz, ihm rinnt Geld wie Sand durch die Finger, und er nimmt es mit der Wahrheit nicht genau. Aber er kann auch Flöten schnitzen und darauf das Lied des Waldbachs nachspielen, er erzählt Geschichten, die kein Ende haben dürften, würzt ein Bier, das Tote aufweckt, und liebt ein Flüchtlingsmädchen, das Gretlin heißt. Er soll
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