Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
sich Euer Sohn«, hörte Magda sich sagen, und dann machte sich jäh die Frage Luft, die sie sich bis zu diesem Augenblick verboten hatte: »Warum tut er das, warum hilft er uns? Er kennt Diether gar nicht, und Ihr kennt noch nicht einmal mich. Warum helft Ihr uns?«
»Was Thomas betrifft, habe ich zwar Vermutungen, aber sprechen muss er für sich selbst«, sagte Clewin Alvensleben. »Für mich hingegen kann ich die Frage beantworten, nur würde ich Euch gern zuvor ein Frühstück bringen lassen. Vergebt mir, doch Ihr seht aus, als brauchtet Ihr dringend eine herzhafte Grundlage, ehe Ihr Euch diesem Genueser überlasst, der nicht nur schnell vergänglich, sondern wie die meisten Charmeure ein klein wenig tückisch ist.«
Magda hatte nicht bemerkt, dass sie von dem Wein getrunken hatte. Er enthielt kein Gewürz und war unverdünnt. Jeder Schluck war ein Hieb in den Magen und zugleich ein Streicheln über Stirn und Augen. »Danke«, sagte sie und meinte es so. »Für gewöhnlich schlinge ich mein Frühstück wie ein Welpe, aber ich glaube, heute kann ich nichts hinunterbringen. Bitte antwortet auf meine Frage, wenn es Euch möglich ist.«
»Es ist sehr gut möglich. Ich gebe Euch die Hilfe, die ich meinem Sohn verweigert habe. Ich habe ihm einen Brief geschrieben, von dem Ihr einen Teil besitzt, und ihn angefleht, mir zu vergeben. Wenn es jemals einen Preis gäbe, den ich bezahlen könnte, um etwas gutzumachen, dann solle er ihn mir nennen. Bald ein Jahr lang habe ich von ihm kein Wort der Antwort erhalten. Ich war sicher, er hätte meinen Brief ins Feuer geworfen, und, um ehrlich zu sein, nichts anderes hätte ich verdient. Er aber hat ein Stück davon Euch gegeben, dem Mädchen, das sein Herz geheilt hat. Glaubt mir, Magda, wenn es zwischen diesem Sand und dieser Heide einen Mann gibt, der mit allem, was er aufbringen kann, für Euren Bruder kämpfen möchte, dann ist es der alte Knochen, der vor Euch sitzt.«
»Ich habe sein Herz nicht …«, begann Magda und brach ab.
Über Clewin Alvenslebens Gesicht glitt ein Lächeln. »Doch, das habt Ihr. Afra und ich haben unser Recht auf einen Platz in Thomas’ Leben verspielt, das wissen wir. Liebe aber ist ein unruhiger Geist, nicht zu zügeln, schlimmer als Hidalgo. Als die Sehnsucht überhandnahm, beschlossen wir, ihr ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Nur ein Lebenszeichen, mehr verlangten wir nicht. Der wundervoll verschwiegene Herr Michel von der Hohlen Birne fand, es sei kein Vertrauensbruch, sondern ein Akt christlicher Nächstenliebe, uns dies zu gewähren. Wir haben Euch nicht nachspioniert, weil uns sinistere Gründe trieben, sondern weil wir unendlich froh waren zu erfahren, dass Thomas wieder einem Menschen nahe ist.«
Ehe Magda widersprechen konnte, hielt sie inne. Es hatte keinen Sinn, es abzustreiten. Sie und Thomas waren einander nahe gewesen, auch wenn er sie benutzt hatte, um nach der Abfuhr von der elfengleichen Afra Balsam auf seinen Stolz zu streichen. Sie hatte ihn ebenfalls benutzt, um von Endres und seinem grausamen Tod loszukommen. Daraus aber war etwas gewachsen, das mit Afra und Endres nichts zu tun hatte, sondern nur mit Magda und Thomas. Magda begriff, dass sie mit Endres ein Kind gewesen war und mit Thomas keines mehr. Dass sie mit Endres gern einen winzigen Frevel begangen hätte und mit Thomas eine große, süße Sünde. Dass die Geschichte von Endres und Magda von allen Jungen und Mädchen handelte, die lernten, zu Männern und Frauen heranzuwachsen, dass aber die Geschichte von Thomas und Magda von Thomas und Magda handelte und von niemandem sonst.
»Ihr wollt nach Hause, nicht wahr? Ich kann meinem Hausknecht sagen, er soll anspannen und Euch zurück nach Berlin fahren.«
»Ich bin mit einem Freund meines Bruders hier, der auf mich wartet«, sagte Magda und trank noch einmal, diesmal in völliger Absicht, vom Genueser Wein. »Ja, ich will nach Hause, ich will den Rest der Familie nicht auf die Folter spannen, sondern wissen lassen, dass Ihr uns helft. Trotzdem, bevor ich gehe – bitte erzählt mir, warum Ihr Eurem Sohn nicht geholfen habt und kein Teil von seinem Leben mehr sein dürft. Ich will Eure Geschichte jetzt hören. Bitte erzählt sie mir.«
31
»Wie wohl alle Männer habe ich mir viele Kinder gewünscht. Und wie wohl alle Männer, denen nur ein einziger Sohn bleibt, habe ich irgendwann zu denken begonnen: Kein Mensch würde viele gegen diesen einen tauschen.
Mein Sohn war alles, was ein Vater sich wünschen
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