Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
stand nicht länger allein in der Unbegreiflichkeit der Welt.
Er würde Bernau und alles, was dazugehörte, hinter sich lassen. Seine Geschwister würden ihm fehlen, doch er war so gut wie sicher, dass sie ihm eines Tages folgen würden.
»Nun, was sagt Ihr, mein Herr?«
Um ein Haar hätte er sich vor dem beleibten Mann auf die Knie geworfen, obgleich er derlei würdelose Gesten hasste. »Ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll, Herr Bechtolt. Ihr werdet Eure Großherzigkeit nicht bereuen, das gelobe ich Euch.«
»Daran zweifle ich nicht, mein Bester.« Der andere trank sein Fastenbier und klopfte Utz auf den Arm. »Und was nun das Geschäftliche angeht – nicht nur ich, auch der Vorsteher der Gilde wäre froh, wenn sich diese Dinge hier und jetzt gleich abwickeln ließen.«
»Selbstverständlich«, beeilte Utz sich zu versichern. »Ich hole nur rasch meinen Bruder, der in der Brauerei wohl aufgehalten wurde. Wenn Ihr Euch also gedulden und hier auf uns warten wollt?«
»Aber gewiss doch. Nur keine Eile.«
Eigentlich hatte Utz vor Bechtolts Ankunft mit Lentz das Nötige besprechen wollen, doch wenn er ehrlich war, hatte er aus Furcht die Unterredung aufgeschoben. Als er dann endlich ins Sudhaus gegangen war, um sich ein Herz zu fassen, hatte er keinen seiner Brüder, sondern nur Endres angetroffen. Es gab ja auch kaum Arbeit. Da kein Getreide gemälzt werden durfte, brauten sie ein Bier aus Molke, das nach Käse schmeckte und sich höchstens für ein Almosen verkaufen ließ.
»Lentz ist hinauf zu seiner Frau gegangen«, hatte Endres ihm unaufgefordert berichtet. Das hätte Utz sich selbst denken können. Alheyt lag seit Tagen darnieder, weil das Kind ihr Schmerzen verursachte, und Lentz, den die Liebe zum Gimpel machte, ließ sie am liebsten keinen Herzschlag lang allein.
»Hast du vielleicht Diether gesehen?«, fragte Endres schüchtern. »Er wollte herkommen, aber er hat sich den ganzen Tag nicht blicken lassen. Ich mache mir Sorgen, und solange Lentz nicht zurück ist, kann ich ihn nicht suchen.«
»Diether ist ein freier Mann«, verwies er Endres, obwohl ihm natürlich klar war, warum der Junge sich sorgte. Aber für seinen jüngsten Bruder hatte er heute keine Zeit; es war der älteste, den er brauchte! Nach oben, in die Kammer der Eheleute, mochte er nicht eindringen, und außerdem war es ohnehin zu spät, denn Bechtolts Fuhrwerk, begleitet von zwei Reisigen, quetschte sich bereits in die halb zugeschneite Gasse. Er hatte den Händler empfangen müssen, ohne die Zusage von seinem Bruder in der Tasche zu haben.
Jetzt hoffte er, Lentz bei der Arbeit anzutreffen, doch auch diesmal stand nur der bienenfleißige Endres am Kessel, aus dem säuerlich stinkender Dampf aufstieg. Gütiger Himmel, was sollte er Bechtolt sagen? Wie Sand im Stundenglas schien ihm die Erfüllung seiner Träume durch die Hände zu rinnen, so schnell, dass jedes Festhalten sinnlos war. »Ist Lentz noch immer nicht heruntergekommen?«, herrschte er Endres unmäßig grob an.
»Nein, bisher nicht«, erwiderte der junge Mann gedämpft und gleichmütig wie stets. Gab es irgendetwas, das ihn aus seiner ewigen Ruhe brachte?
»Geh ihn holen«, sagte Utz. »Ich habe mit ihm zu sprechen.« Sein Großvater hatte immer deutlich gemacht, dass Endres in seinem Haus kein Bediensteter, sondern ein Mitglied der Familie war, das niemand herumstoßen durfte. Utz’ Art war es ohnehin nicht, Menschen herumzustoßen. Er erkannte sich selbst kaum wieder. Die hochfliegende Hoffnung und die Furcht, sie wieder zu verlieren, trieben Risse in die dünne Decke seiner Selbstbeherrschung.
Endres aber lief ohne Widerrede hinaus und kehrte kurz darauf mit Lentz im Schlepptau zurück. Das Gesicht des Bruders war bleich, Haar und Bart zerrauft. »Was gibt es denn?«
»Ich muss dich sprechen«, antwortete Utz.
»Ja, das hat mir Endres schon erzählt. Nur heraus damit. Ich würde gern rasch zur Alheyt zurück. Es geht ihr nicht gut, und Magda läuft eben nach der Hebamme.«
»Nach der Hebamme? Ja, kommt denn schon das Kind?« Wie wohl die meisten Männer kam sich Utz bei solchen Gesprächen dümmlich vor. Er hatte nicht die geringste Ahnung, woran man erkannte, dass ein Kind sich aus dem Leib einer Frau den Weg ins Leben bahnte, und was die Hebamme dabei zu tun hatte. Flüchtig bedauerte er, dass er den kleinen Neffen kaum erleben würde. Vielleicht wäre es schön gewesen, ein Onkel zu sein, eine Art Vorbild und Wegbereiter für ein winziges Menschenwesen,
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