Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
seinen Augen zu einer endlosen weißen Fläche zerflossen. Er war gescheitert. Der Kampf, in dem er all seine Kräfte verausgabt hatte, war zu Ende, und er ging als Verlierer vom Platz.
»Ist dir nicht wohl, Utz? Komm doch ins Haus, bei dieser Kälte und Düsternis muss einem ja die ganze Welt als Jammertal erscheinen.«
Als Utz aufblickte, schien ihm sein Kopf schwer wie Blei. Im selben Moment kam ein Mann in die Gasse getrottet, dem der Kopf noch schwerer sein musste, denn er ließ ihn im Gehen vornüberhängen. Auf einen Blick sah Utz, dass in den Schopf des Fremden ein kreisrundes Loch geschoren war. Nur ein schmaler Haarkranz war stehen geblieben, der an die Dornenkrone Christi gemahnen sollte. In Utz’ Magen regte sich Widerwillen, als sei der fremde Gottesmann an seinem Elend schuld.
Der Mönch kam weiter durch den Schnee auf sie zu. Unwillkürlich blickte Utz auf seine Füße, die in offenen Sandalen steckten. Die Haut war aufgeraut und blaurot verfroren, die graue Kutte hing vor Nässe schwer darüber. Wie konnte ein Mensch sich das antun, wie konnte er freiwillig ein solches Leben wählen? Die Selbsterniedrigung aber war das Schlimmste: Ohne den Kopf zu heben, streckte der Mann ihnen die Hände entgegen und murmelte seine Bitte um Almosen, die diese Leute beständiger auf den Lippen führten als Vaterunser und Rosenkranz. »Scher dich weg!«, fuhr Utz ihn so heftig an, dass der Gottesmann erschrocken zurückwich.
Lentz hingegen hatte bereits in den Beutel an seinem Gürtel gelangt und eine Münze zutage gefördert. Er legte sie dem Mönch in die halb erfrorenen Hände und schloss kurz die seinen darum. »Ich weiß, Ihr dürft keine Gabe in Geld annehmen, doch ich habe nichts anderes zur Hand. Wenn Ihr es Eurem Guardian abliefert, wird es recht sein.«
»Gottes Segen begleite jeden Eurer Wege«, erwiderte der Mönch und ging.
»Wir haben kein Geld!«, schrie Utz seinen Bruder an, kaum dass die braune Kutte hinter der Häuserecke verschwunden war. »Mir ist soeben mein Leben in Scherben zersprungen, weil meine Familie mir nicht mit einer Leihgabe aushelfen kann. Du aber gehst hin und verschenkst Geld an die verfluchten Klosterbrüder, die uns die Preise ruinieren und denen wir das ganze Elend zu verdanken haben.«
»Aber das war doch ein Franziskaner«, entgegnete Lentz erstaunt, ohne die Stimme zu erheben. »Ein Minorit. Diese Leute, die dem Bettelorden angehören, sind anders als die Mönche aus den mächtigen Klöstern in Zinna oder Chorin. Sie leben allein von Spenden und in völliger Armut, Utz. Sie nehmen niemandem etwas weg, schon gar nicht uns. Alles, was sie wollen, ist eins zu sein mit Gott.«
»Du hörst dich an wie dieser Teufel von Propst«, erwiderte Utz, obwohl der Vergleich geradezu lächerlich falsch war. »Mir ist einerlei, welchem Orden diese Kerle, die sich um die Welt nicht scheren, angehören. Sie sind die Jünger von Papst Johannes dem Zweiundzwanzigsten, und der ist in der Tat der Teufel in Menschengestalt. Dass er Brandenburg mit Krieg überziehen will, weißt du, oder? Und warum? Weil Menschen anfangen, sich gegen die Herrschaft der Kirche zu wehren, weil Städter aufstehen und sich auf ihre eigenen Kräfte besinnen. Das ertragen diese Herren nicht. Da machen sie lieber ein Land samt seiner Bewohner dem Erdboden gleich.«
»Ich habe nicht vom Propst und schon gar nicht vom Papst gesprochen, Utz«, erwiderte Lentz wie tief in Gedanken. »Nur von Gott. Komm jetzt ins Haus, ehe wir beide hier erfrieren. Es tut mir im Herzen weh, wie schlecht es dir geht, aber deine Wut an einem unbeteiligten Franziskanermönch auszulassen, hilft dir nicht.«
Und woher weißt du das?, wollte Utz ihm entgegenschleudern. Dass es ihm sehr wohl half, wollte er dem Bruder in sein selbstgerechtes Gesicht schreien, dass er sich wünschte, seine Wut an der ganzen Welt auszulassen, die ihm Stein um Stein in den Weg warf, bis er keine Kraft mehr hatte, sie fortzuräumen. Er wollte nicht ins Haus. Hier in der Gasse, im Schnee, wollte er sich niederlegen und liegen bleiben. Mochten Fuhrwerke über ihn hinwegrollen und Kinder beim Spielen auf ihn springen, ihn scherte es nicht. Er hatte alles verloren. Sein Ziel. Seine Hoffnung. Seine Selbstachtung. Fronica.
So erging es einem, dem sein Traum zersprang – auf einen Schlag sah er nirgends mehr Hoffnung und war zugleich sicher: Keinem anderen Menschen auf der Erde konnte etwas widerfahren, das schwerer erträglich war. »Geh du«, wollte er sagen, weil
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