Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
sei. Andere behaupteten, das mächtige Gebein sei der Brust eines Riesen entnommen, den ein tollkühner Berliner in den Müggelbergen erschlagen habe. In jedem Fall hieß die Schänke, die ihre Front hinter dem Mühlendamm dem Fluss entgegenstreckte, Zur Rippe und stellte den Wunderknochen stolz zur Schau. Der zweistöckige, langgezogene Fachwerkbau war ohne jeden Zweifel das beliebteste Gasthaus in ganz Berlin.
Diether konnte sich nicht erinnern, sich je an einem Ort so wohlgefühlt zu haben wie in dem rauchgefüllten, bis auf den letzten Platz besetzten Schankraum. Der Lärm der Zecher hallte von den Wänden, Krüge und Schüsseln klirrten, jeder schien jeden zu kennen, und alle paar Augenblicke wallte Gelächter in Schwaden auf. Es gab zum Platzen fette Schweinswürste, einen Schmortopf, in dessen sämiger Tunke der Löffel stecken blieb, und frisch vom Mühlendamm gelieferte Brezeln. Dazu flossen obergäriges Bier und Honigwein in Strömen. Es wurde geredet, gescherzt und gesungen, Würfel klapperten im Becher, Spielkarten klatschten auf Tischplatten, und die Wirtstöchter, die sich als Schankmädchen verdingten, parierten Anzüglichkeiten mit lustvollen Maulschellen. Vor allem aber wurde zwischen Kraut und Bier nach Herzenslust philosophiert und die Ordnungen von Welt und Himmelreich neu aufgestellt.
Der lebenslustige Kreis um den Bäcker Petter Tietz hatte Diether als einen der ihren aufgenommen. Er war willkommen, obgleich in seinem Beutel ständig Ebbe herrschte, was seine Geschichte vom schwungvollen Handel wenig glaubwürdig machte. Es kam jedoch niemand auf den Gedanken, das, was er erzählte, nachzuprüfen. Man brachte ihm Vertrauen entgegen, achtete ihn als einen Menschen unter Menschen. Auch den Hans vom Bader, der noch viel tiefer unter ihnen stand als Diether, behandelten die Männer wie ihresgleichen.
Anfangs, so hatte Hans ihm anvertraut, hatte er an einem Katzentisch in der hintersten Ecke sitzen und sein Bier aus einer Kanne trinken müssen, die mit einer Kette an die Wand geschmiedet war. Auf diese Weise bestrafte die Stadt Männer, die ehrlosen Berufen nachgingen, den Blutvogt und seine Henkersknechte ebenso wie Bader und Hurenwirte. Petter Tietz aber hatte sich über alle Grenzen von Stand und Sitte hinweggesetzt und seinen Schemel neben den von Hans gerückt. »Wenn dieser düstere Winkel für meinen Freund gut genug ist, dann ist er’s auch für mich«, hatte er bekundet. »Aber da uns das Bierchen, wenn’s an der Kette liegt, nur halb so gut schmeckt, werden wir hier wohl kaum noch einen zweiten Krug bestellen.«
Seither durfte Hans mit den Übrigen im Schankraum sitzen und sein Bier trinken wie ein freier Bürger Berlins. »Wenn einer sein Herz auf dem rechten Flecken hat, dann ist es der Petter«, sagte Hans, der Diether in diesen Wochen der Freund geworden war, den er so schmerzlich vermisst hatte. »Er steht so weit über mir wie die Sterne über den Spreeinseln, aber lässt er’s mich spüren? Nie im Leben. Er ist ein Aufrührer, weißt du? An das, was er im Mund führt, glaubt er wirklich, und mit dem Fortschritt in Berlin ist es ihm ernst.«
Tatsächlich träumte Petter, der seines Vaters Großbäckerei bereits im zarten Alter von vierzehn Jahren geerbt hatte, von einem Stand der Städter, der sich von niemandem mehr den Mund verbieten ließ. In dieser neuen Art von Bürgertum sollte ein Mann allein durch Leistung und Willen erreichen können, was immer er wollte, ohne dass seine Herkunft ihm im Weg stand. Kein Wunder, dass der geistliche Stand dem kämpferischen Kahlkopf ein ewiger Stachel im Fleisch war. »Unser Brandenburg in all seinen Teilen besitzt die Gestalt eines Adlers«, predigte er feurig über einem Becher Roten. »Und was ist der Adler? Ein stolzes Tier, das seine Freiheit liebt. Was aber sind wir, meine Freunde? Ein Haufen Rotzjungen, denen das Väterchen einen verdroschenen Hintern androht – und prompt kneifen wir die Schwänze ein und kuschen.«
Unter dem Johlen und Lachen der Gefährten steigerte er sich zum Höhepunkt: »Und genauso halten es der Papst und seine Jünger, oder etwa nicht? Wenn wir es wagen, den Kopf zu erheben, drohen sie uns statt mit dem Stöckchen mit dem Höllenfeuer, und wie verdroschene Gören ducken wir uns und halten die Gosch.«
Diether bezweifelte, dass Petter je von seinem Vater der Hintern verdroschen worden war. Einer, der so selbstbewusst daherkam und seine Meinung so frei durch den Saal posaunte, konnte die widerliche Angst
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