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Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)

Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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Gretlin mit ihren Blicken, Gesten und ihrer schüchternen Zärtlichkeit beredter als sämtliche Schwätzer der Welt. So klein war sie, dass sie stets zu ihm aufblicken musste, und sie tat es mit weiten, bewundernden Augen. Das zutiefst verschreckte Geschöpf, das von jedem Menschen das Schlimmste fürchtete, schmiegte sich vertrauensvoll in seinen Arm und überließ sich seiner Führung. Ein Gefühl, das erhebender war, gab es nicht. Mit Gretlin an der Seite glaubte Diether, um mindestens vier Zoll zu wachsen. Nie hatte ein Mensch ihn gebraucht wie sie. Nie hatte ein Mensch ihn spüren lassen, dass allein er geeignet war, ihr Held und Retter zu sein.
    Er hatte sie aus dem abscheulichen Loch beim Haus des Blutvogts herausgeholt und samt ihrer Schwester in der Rippe untergebracht. Mehr als die kleinste Kammer unterm Dach konnten er und Hans nicht bezahlen, doch das Zimmerchen war immerhin sauber und trocken, und die Tür ließ sich ordentlich verriegeln. In Gretlins dankbarem Blick las er, dass sie den engen Raum als Paradies empfand. Voll Überschwang wies Diether den Wirt an, den beiden Schwestern täglich ein Frühstück mit reichlich Milch und am Abend einen Krug nahrhaften Honigwein zu servieren.
    »Gütiger Herr des Himmels, wie sollen wir für solchen Luxus denn das Geld aufbringen?«, hatte Hans ausgerufen.
    »Sind Gretlin und Ursel das bisschen Milch und Wein etwa nicht wert?«, hatte Diether geantwortet. »Die zwei hatten keine Unze Fleisch auf den Knochen, und jetzt setzt meine Gretlin endlich ein wenig Speck an. Haben sie nach allem, was sie durchgemacht haben, kein Recht, umsorgt zu werden? Ich jedenfalls möchte meine Gretlin hätscheln und päppeln, bis in ihren süßen Schnabel kein Krumen mehr passt.«
    »Ja meinst du denn, ich nicht? Hätte ich die Mittel dazu, wäre meine Ursel mollig wie eine Spandauer Ritterstochter und ginge in Pelz und Seide. Leider bin ich aber nur ein armseliger Badersknecht, und in meinem Beutel klimpern kaum je zwei Münzen umeinander.«
    »Das lass meine Sorge sein«, beruhigte Diether ihn großzügig. »Natürlich dauert es seine Zeit, bis mein Geschäft hier richtig in Schwung kommt, aber so ganz auf dem Trockenen sitzt man als Händler ja nie.«
    »Du bist ein Freund nach meinem Herzen!«, jubelte Hans und warf Diether die Arme um den Hals. »Ob ich’s dir in klingender Münze eines Tages vergelten kann, weiß ich nicht, aber solltest du jemals einen brauchen, der für dich einen Drachen tötet – finde ihn hier, in mir.«
    In solchen Augenblicken war Diether sicher, alle Widrigkeiten überwinden und nicht nur Gretlin und Ursel, sondern auch den Freund aus seinem Elend erlösen zu können. Das Vertrauen, das diese Menschen in ihn setzten, würde ihm helfen, über sich hinauszuwachsen.
    Die Wahrheit, vor der Tür der Rippe und im Tageslicht betrachtet, sah allerdings anders aus. Diethers einzige Einkommensquelle blieb die Brauerei, die seine Familie inzwischen mit beachtlichem Erfolg betrieb. Lentz, der Feigling, hatte sich davongemacht, doch Utz half bei den geschäftlichen Dingen, und Magda und der Großvater werkelten wie zwei Mühlräder, für die es kein Halten gab. Wieder und wieder nahm Diether sich vor, sich an der Arbeit zu beteiligen, doch länger als ein paar Stunden hielt sein Vorsatz nie an, und danach blieb er der Braustube von Neuem tagelang fern.
    Es war nicht die Arbeit, die ihn schreckte, denn seinen Hang zur Faulheit hätte er um Gretlins willen besiegt. Es war die Nähe seiner Familie, der stumme Verdacht, der im Raum hing. Er machte die Luft schwer und undurchdringlich, bis Diether ins Freie fliehen musste, wenn er nicht ersticken wollte.
    Zudem wurde in der Kasse der Familie weiterhin jeder Pfennig dreimal umgedreht. Die Schuld beim Juden musste beglichen werden, weil der verdammte Bechtolt die Summe unterschlagen hatte, Geräte und Hausrat fehlten, und allmonatlich verlangte der Marktmeister seine Gebühr für den Stand. So fühlte sich Diether jedes Mal, wenn er Magda um Geld bitten musste, nicht nur wie ein Bettler, sondern ein wenig wie ein Dieb. »Es ist für Gretlin«, pflegte er zu sagen, und Magda zählte ihm in die Hand, was sie hatte, meist nicht einmal die Hälfte von dem, was er gebraucht hätte.
    »Mich kratzt nicht, wofür es ist«, erklärte sie. »Solange es dich davor bewahrt, dich in den Sumpf zu reiten.«
    Ein Verbrechen zu begehen war, was sie in Wahrheit sagen wollte. Ein weiteres Verbrechen. So sah das Bild aus, das seine

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