Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
Mädchen.« Er senkte sein Gesicht auf ihr Haar, den Mund dicht an ihr Ohr. »Weißt du jetzt, dass du schön bist? Dass ein Kerl, der vom Verwürzen schwatzt, ein Blinder oder ein Idiot sein muss?«
Sie langte nach seinem Kopf, nahm sein Gesicht in die Hände und betrachtete es Zug um Zug. Nie hatte sie jemanden so angesehen, weder Endres noch einen ihrer Brüder, hatte sich niemandes Züge auf solche Art eingeprägt. Fast schien es verrückt, dass sie nach Endres diesen Mann lieben sollte, denn einen, der dem Verstorbenen weniger ähnlich sah, hätte sie kaum finden können. Endres war hell, scheu und zart gewesen, und dieser war dunkel und kraftstrotzend, hochmütig, wuchtig, ein Erdrutsch in einer Mönchskutte. Sie hatte sich sicher gefühlt in dem Wissen, dass Endres sich ihr wie ein lammfrommes Zugpferd fügen würde. Jetzt verspürte sie auf einmal eine ungeheure Lust, mit diesem prachtvollen, unverschämten Burschen ihre Kräfte zu messen.
Sie küsste ihn wieder, diesmal nicht ohne Biss. »Ja, jetzt weiß ich’s«, sagte sie. »Aber wenn du mich wegschiebst, weiß ich es nicht mehr. Du musst bei mir bleiben.«
»Du weißt, dass ich das nicht kann.«
»Und du weißt, dass ich das nicht hören will.«
»Ich bin Franziskaner«, sagte er und strich ihr das störrische Haar aus der Stirn. »Ich kann das, was wir getan haben, nicht bereuen, aber weiter darf es nicht gehen. Siehst du, dass es schon dämmert? Wir müssen aus dieser Pfütze aufstehen, Magda, und in die Stadt zurückkehren.«
»Es muss weitergehen!«, rief Magda, krallte die Hände um den Halsausschnitt der Kutte und schüttelte seinen schweren Leib. Die Angst, er könnte tun, was er gesagt hatte – aufstehen und gehen –, wuchs sich in Windeseile zum Entsetzen aus. »Du bist kein Franziskaner, du hast kein Gelübde geleistet, und ich erlaube dir nicht, mich einfach im Stich zu lassen. Dir nicht!«
»Willst du mich jetzt wieder schlagen? Es hilft nicht, Magda. Ich glaube, es hilft nie, es bringt einen Menschen in Zorn, aber es hält ihn von nichts ab.«
Die Bilder des Vormittags zuckten wieder durch ihr Gedächtnis, ihre haltlose Raserei, ohne Sinn und Verstand. »Nein, ich will dich nicht schlagen«, sagte sie, löste die Hände von seiner Kutte und setzte sich auf. Jäh begannen ihr die Zähne zu klappern und sämtliche Glieder wie welkes Laub zu zittern. Es war kalt im Gras, jetzt, wo seine Arme sie nicht mehr wärmten, doch vor allem war sie zu Tode erschöpft und krank vor Furcht. »Ich will, dass du bei mir bleibst«, sagte sie. »Dass mich einmal ein Mensch nicht allein lässt.«
»Nicht ich, Magda. Ich bin ein gefährlicher Mensch. Ich würde dir schaden.«
»Nicht du, sondern ich!«, schrie sie ihn an. »Ich bin gefährlich, ich schade Menschen. Du glaubst, ich bin eine närrische, unbeherrschte Gans, die den Kopf verliert, sobald etwas nicht nach ihrem Willen geht. Aber so ist es nicht – ich galt als völlig vernünftiges, brauchbares Mädchen, ehe das mit diesen Träumen mich überrollt hat. Es raubt mir den Verstand, Thomas. Ich bin nicht mehr ich, ich werde wahnsinnig daran! Und wie soll ich denn nicht wahnsinnig werden, wenn ich mit meinen Träumen schuld daran bin, dass jeder Mensch, den ich liebe, mich verlässt?«
Er sprang auf die Füße, zog sie aus dem nassen Gras und schloss fest die Arme um sie. »Ist ja gut, Liebste. Ist ja gut. Ich glaube nicht, dass du eine Gans bist, ich glaube nicht, dass du wahnsinnig wirst, und ich verlasse dich nicht.«
»Wirklich nicht?«
»Aber nein.« Mit der Lippe zerdrückte er ihr eine Träne auf der Wange. »Jetzt erzähl es mir, ja? Das, was dich so fürchterlich quält.«
Sie wischte sich das Gesicht ab und tat es. In einer Springflut von Worten erzählte sie ihm von den Träumen, von dem unsäglichen Geheimnis, das sie all die Jahre in sich vergraben hatte, und dann war sie nicht mehr allein.
DRITTER TEIL
Berlin, Brandenburg
Juni – August 1325
»Die Einwohner sind gut, aber rau und ungelehrt.
Dem Essen und Trinken mehr ergeben als dem Studium
guter Schriften. Sie neigen von Natur her zur Faulheit.«
Johannes Trithemius, Abt des Klosters Sponheim
20
Über der Tür der Schänke hing dort, wo bei anderen ein Blechschild baumelte, ein gewaltiger Knochen, zu groß und zu massig, um irgendeinem bekannten Getier zu gehören. Caspar, der Wirt, behauptete, der Knochen sei die Rippe eines Meeresuntiers, das sich in die Spree verirrt habe und von einem seiner Ahnen erlegt worden
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