Das Mädchen aus dem Meer: Roman
aber auch vor der Kälte, die sich wie mit eisigen Nadeln in mein Mark zu schrauben versuchte.
»Und warum weiß ich nichts davon, dass sie zu uns gehört?« Kratt stand noch immer genau neben mir, und obwohl er keinerlei drohende Gesten machte, war mir klar, dass er jede Sekunde bereit und fähig war, mich erneut in den See zu schleudern und dieses Mal wirklich zu ertränken. Cochas Prophezeiung hatte sich Wort für Wort erfüllt.
»Weil ich noch keine Gelegenheit gefunden habe, mit dir darüber zu sprechen«, log Cocha und wickelte mich in eine Decke aus komprimiertem Dreck, die er weiß der Himmel woher gezaubert hatte.
Kratt maß mich schweigend mit seinen schwarzen Augen, die mir tief und unberechenbar erschienen wie das Universum. Jeden Augenblick konnte ein Meteorit daraus hervorschießen und alles Leben auf der Erde vernichten, dachte ich. Aber stattdessen wandte er sich irgendwann ab, fischte den Welpen aus dem See und ließ ihn in meine Arme fallen, die ihn ohne mein bewusstes Zutun auffingen.
»Du bist für sie verantwortlich, bis wir über sie entschieden haben«, richtete er das Wort wieder an Cocha.
Ich fühlte mich ungefähr so wehr- und bedeutungslos wie ein Pferdeapfel auf der Straße nach Kirm. So zermatscht und schmutzig sowieso. Im Winter. Bei Eisregen. Zu einem festlichen Anlass in der Stadt.
Also drückte ich den nunmehr knatschenden Welpen gegen meine steif gefrorenen Brustwarzen und versuchte vergebens, mich samt und sonders in Cochas linker Achselhöhle zu verstecken.
»Du sorgst dafür, dass sie das Lager nicht verlässt«, fügte Kratt mitleidlos hinzu. »Lass sie keine Sekunde aus den Augen.«
25
D u wärst ohnehin bei den Rebellen geblieben«, vermutete Froh und rückte das mehr als faustgroße Ei vorsichtig in eine andere Position. »Auch freiwillig.«
Chita hob abwesend die Achseln. »Was heißt schon bei den Rebellen«, antwortete sie. »Ich wäre bei Cocha geblieben. Obwohl er eine ganze Weile kein Wort mehr mit mir sprach.«
»Er war verärgert, weil du ihm wieder nachgelaufen bist«, stellte Froh fest.
»Ja. Auch«, bestätigte Chita und rieb sich fröstelnd die Oberarme.
Die Sonne war bereits wieder ein Stück weit ins Meer eingetaucht. Obwohl es immer noch sehr warm war, hatten sich auch die Härchen auf seinen Armen und Beinen inzwischen aufgerichtet, denn sein Lendenschurz klebte klamm über dem, was niemand sehen sollte. Niemand, außer vielleicht Niedlich …
Nein. Sie waren nicht füreinander bestimmt. Und er tat besser daran, nicht mehr an sie zu denken. Er hatte eine Aufgabe, auf die er sich konzentrieren musste, und diese Aufgabe saß neben ihm und hungerte und dürstete und fror.
»Kratt teilte uns in verschiedene Gruppen auf. Wir waren mehr als hundert Leute. Eine solche Masse, die sich durch die Wälder walzte, wäre schnell jemandem aufgefallen, wie du dir vielleicht vorstellen kannst«, erklärte Chita weiter. »Darum verstreuten wir uns in alle Himmelsrichtungen. Jede Gruppe umfasste nicht mehr als zehn oder fünfzehn Paradieslose. Und jede Gruppe betreute zwei oder drei der Krü… der Kranken aus der Grotte.
Weil ich das einfache Zelt, in dem man mich abstellte, ohnehin nicht verlassen durfte, stopfte Golondrin das Baby ohne Beine zu mir, denn dessen Mutter war inzwischen zu schwach, um sich darum zu kümmern. Und dann stellte Kratt den Baummann und Cocha vor den Ausgang. Aber Cocha wollte mich nicht sehen und ließ sich fast durchgehend von Mikkoka vertreten, die mich in den paar Tagen mehrmals aus den Stiefeln klatschte, als ich versuchte, mich an ihr vorbeizuschleichen. Hatte ich erwähnt, dass sie Kratts Schwester ist?«
Froh legte den Kopf schräg. »Warum wolltest du dich an ihr vorbeischleichen? Wolltest du doch nach Hause zurück? Ich meine: Du kannst es mir ruhig sagen. Immerhin wurdest du dort doch auch gebraucht, oder?«
»Als Kratt mich fast in der Grotte ertränkt hat«, erklärte Chita anstelle einer Antwort, »hätte ich schon wissen müssen, dass die beiden irgendwie miteinander verwandt sind. Niemand sonst bewegt sich so schnell und lautlos wie Mikkoka und Kratt. Sie brechen dir jeden Knochen im Leib und binden sich nebenher noch die Stiefel, während du noch auf dem letzten Brotkanten deines Lebens kaust. Viele der Männer und Frauen, die bei uns waren, waren im Nahkampf nahezu unschlagbar. Aber Kratt und Mikkoka … Sie sind Koryphäen. Es hätte mich nicht ernsthaft gewundert, wenn Kratt die Welle einfach ertränkt hätte.«
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