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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Hohlbein
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Überlebenden hierher verliefen (ich sah gerade noch, wie zwei verstaubte Novizen den Simpel mit dem Riesenschädel durch den rückseitigen Felsspalt drängten; kein leichtes Unterfangen, denn man hatte ihm wohl eingetrichtert, dass die Grotte unter keinen Umständen zu verlassen sei – er brüllte ein entsprechendes Mantra, während er sich gegen die beiden Novizen stemmte). Aber trotzdem sah ich mich bestimmt dreißig oder vierzig Novizen gegenüber, die man zwar kaum voneinander unterscheiden, dafür aber umso besser als Schüler der Stadt erkennen konnte, weil sie allesamt mit einer dicken Staub- und Schmutzschicht überzogen waren. Einzig das Farbspektrum des Simpels umfasste noch mehr als zwei Farben.
    Und das Kratts.
    Auch er war vom Staub verschont geblieben. Natürlich, denn er lebte ja nicht in der Stadt der Kinder, sondern mit den Revolutionären in den Höhlen. Ich hatte ihn schon einmal gesehen, aber erst jetzt, als er nur wenige Schritte von mir entfernt neben dem Holzverschlag stand und alarmiert zu mir hinblickte, betrachtete ich ihn genauer.
    Er war sehr groß – größer als Cocha. Und er war von schlanker, athletischer Gestalt. Durch seine dünnen schwarzen Kleider machte ich ein stetiges nervöses Muskelspiel aus, und unter seinen gefährlich blitzenden, dunklen Augen verliehen außergewöhnlich hohe, kantige Wangenknochen seinem Gesicht etwas Befremdliches, aber auch auf verruchte Weise Attraktives. Ihn umgab die Schönheit eines Raubvogels, wie ich anerkennend registrierte. Nein – nicht die eines Stotterers. Stotterer sind hässlich und dumm. Kratt hingegen erinnerte mich an den Kondor, unser Wappentier. Oder zumindest an einen Steinadler.
    Auf jeden Fall hätte es des Schrumpfkopfs an seinem Gürtel und der Haifischzähne an der Kette um seinen Hals nicht bedurft, um jedem, dem er begegnete, das Herz in die Hose rutschen zu lassen. Mir auch. Ich wusste, dass größtmögliche Vorsicht angemahnt war, ehe er auch nur ein Wort sprach, aber ich wahrte Contenance und brachte sogar ein sachtes Lächeln zustande, während ich seinem Blick, der mich aufzuspießen und in der Corona der Sonne zu rösten schien, wacker standhielt.
    »Wer ist das?«, verlangte Kratt von Mikkoka und Golondrin zu wissen, die sich nur Sekunden vor mir durch den Felsspalt gezwängt hatten. Eine Stimme, so leise wie das Zischen einer Natter und doch so klar wie eine Gebirgsquelle. Ich verstand, wieso die Paradieslosen ihm gehorchten, und ich glaube, Kratt war der erste Mensch, zu dem ich von Anfang an aufblickte, den ich respektierte und bewunderte, ohne dass er sich meine Anerkennung erst mühsam hatte verdienen müssen. Zudem hatte die Natur gewollt, dass sein Schädel mindestens genauso lang war wie meiner, obwohl er ganz sicher nicht unserer Dynastie angehörte.
    Golondrin hob hilflos die Schultern. Mikkoka wandte sich augenrollend ab, und ich machte noch einmal das Zeichen.
    » Das ist Jamachita Mirano Kantamar«, meldete sich eine mi r wohlbekannte dunkle Stimme aus der Masse der Staubzombies zu Wort, »die Tochter Rah Loros.«
    Mein Herz tat einen glückseligen Sprung. Ebenso meine Beine, die mich jäh einen Ochsenfroschhüpfer weit in Cochas Richtung beförderten. Doch statt in seinen schützenden Armen landete ich in eisigem, kristallklarem Nass, das mir in Mund und Nase schoss und jegliche Sinne zu rauben versuchte. Alles, was ich verstand, war, dass ich mich auf einmal in dem Gewässer befand, das gerade noch meterweit entfernt gewesen war, und dass irgendeine große Kraft mich daran hinderte, zurück an die Oberfläche zu gelangen.
    Verzweifelt schlug und trat ich um mich, wobei ich den Beutelwolfwelpen losließ, den ich erstaunlicherweise noch immer in den Armen hielt. Doch der Wasserdruck dämmte meine Gegenwehr auf den Elan eines komatösen Bandwurms, und ein anderer, bedeutend schwererer Parasit hatte sich in meinen Haaren verfangen und drückte mich mit seiner Masse unerbittlich in die Tiefe.
    Dann riss er mich wieder empor, was sich anfühlte, als wollte er mir die Kopfhaut vom Schädel schälen, und ich landete mit einem schmatzenden Geräusch zwischen den Stalagmiten und vernahm dumpf Kratts Stimme, die zischte: »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
    »Weil du sie vorher schon fast ertränkt hast«, grummelte Cocha unpassend unwillig, ließ sich aber immerhin neben mir in die Hocke sinken und half mir, mich wieder aufzurichten. Ich zitterte wie eine Kompassnadel auf magnetischem Gestein. Vor Schreck,

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