Das Mädchen aus dem Meer: Roman
mir laut und energisch etwas anderes einzureden versuchte. »Und das wahrscheinlich schon seit unserem Flug nach Silberfels«, setzte ich böse nach.
Cocha verneinte. Er blieb ruhig, wie immer, aber in seinen Augen sah ich, dass ich ihn verletzt hatte. Was ihm ganz recht geschah, wie ich fand.
»Sobald wir ganz sicher auf dem richtigen Kurs sind und ich Golondrin für eine Weile allein an die Apparate lassen kann, komme ich zu dir runter«, versprach er, anstatt sich zu entschuldigen oder zu verteidigen. »Ich glaube, ich muss dir dringend ein paar Sachen erklären.«
»Das glaube ich allerdings auch!«, schnaubte ich und widerstand dem Impuls, ihm vor die Füße zu spucken, nur mit Mühe. Ich riss meinen Welpen wieder an mich und nickte Tronto, dem Wurzelwarzenmonster, auffordernd zu. »Zeig mir, wo ich mich ausruhen kann«, verlangte ich, als hätte Cocha ihn nicht schon zuvor genau dazu angewiesen. »Ich kann all eure verlogenen Fratzen nicht mehr sehen.«
32
T ronto wies mir eine erbärmlich kleine Kajüte ähnlich jener zu, in der du vorhin aufgewacht bist. Ich knallte die Tür hinter mir zu, registrierte frustriert, dass der Schlüssel vorsorglich aus dem Schloss entfernt worden war, sodass ich mich nicht einschließen konnte, und warf mich auf die schmale, harte Pritsche, wo ich mir sämtliche verfügbaren Felle und Decken über den Kopf zog und mich in den Schlaf zu heulen versuchte. Darin war ich eigentlich recht gut. Aber an diesem frühen Abend gelang es mir nicht.
Kennst du dieses Gefühl, wenn Körper und Geist völlig ausgelaugt sind und jeder Geruch, jedes Geräusch, sogar jedes Gefühl dich nur noch stört? Alles, was du hörst, siehst, schmeckst, riechst und empfindest, terrorisiert deine Nerven, und du willst nur noch deine Ruhe haben und schlafen, aber allein schon das angestrengte Wünschen hält dich wach und quält dich nur noch mehr?
Ja.
So ging es mir an diesem Abend. Ich konnte nicht schlafen, weil ich nicht aufhören konnte zu heulen, und ich konnte nicht aufhören zu heulen, weil ich nicht schlafen konnte. Meine Gedanken drehten sich nur noch wild im Kreis und ergaben überhaupt keinen Sinn mehr. Ich dachte, dass ich nach Hause und bei Cocha bleiben wollte. Dass ich ihn liebte und dass ich ihn hasste. Dass Kratt mich beeindruckte und anwiderte. Dass ich meinen Vater verehrte und verachtete. Dass ich bei den Paradieslosen bleiben und keine Abtrünnige mehr sein wollte. All solche Sachen eben, die sich beim besten Willen nicht miteinander vereinbaren ließen. Ich fühlte mich völlig zerrissen. Cocha hatte mich zerrissen, denn er hatte mich in all das hineingezogen. Er hatte mein ganzes Weltbild zerstört, und erst jetzt wurde mir das richtig bewusst.
Bewusst wurde mir auch, dass ich Sora im Stich gelassen hatte, und dafür schämte ich mich. Ich hatte keine Ahnung, wie es ihm jetzt ging. Streng genommen konnte ich nicht einmal sicher sein, dass er überhaupt noch lebte. Und apropos Leben: Lebte Rossa eigentlich noch? Ich hatte nicht genug Zeit bekommen, um eine allzu tiefe Bindung zu ihm zu entwickeln; er war doch noch so klein. Und er war auch nicht mein leiblicher Bruder. Dennoch litt ich auch unter der Ungewissheit um sein Schicksal – allein schon aus der Scham heraus, in den vergangenen Wochen kaum über ihn nachgedacht zu haben. Und Moijo? Der war mir doch auch nicht egal – dumme Rute und tagelange Strafarbeiten hin oder her, auch er war ein Teil meines alten Lebens gewesen, und ich hatte mich bis zu diesem Abend nicht einmal gefragt, ob er das Beben von Silberfels überlebt hatte!
Ich war ein schlechter Mensch, dachte ich. Obwohl mein Wölfchen mir die Tränen von der Wange leckte, fühlte ich mich wertlos und unendlich dumm. Ich war so naiv gewesen! Ich hätte Cocha niemals in Annas Haus folgen dürfen, aber es war genauso gewesen, wie Mikkoka immer sagte: Ich war blind vor Liebe gewesen, und ich hatte Cocha gehorcht wie ein Hund. Ich war ihm auf Schritt und Tritt gefolgt wie ein Entenküken und hatte von seiner Sache, von Politik im Allgemeinen sogar, nicht den geringsten Schimmer!
Die Nacht brach herein, und als ich an einen Punkt gelangte, an dem ich mir wünschte, Anna käme mit ihrem Kugelpuffer angerannt und würde mich einfach erschießen, damit ich nicht mehr heulen musste, klopfte es leise an der Tür, und Cocha schlüpfte zu mir in die Kajüte und setzte sich auf mein Bett.
Ich wälzte mich auf den Bauch, versteckte meinen Kopf unter einem Kissen, schluchzte
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