Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Moment war sich Kapitän Barrum nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch irgendwann eine Gelegenheit bekam, ihr von irgendetwas zu erzählen.
In den Tagen, die seine Mannschaft und er damit zugebracht hatten, die vereinzelten Lebenden unter all den Toten zu suchen, die im Ozean trieben, wo kurz zuvor noch ganze Städte, Inseln, Länder und das Festland gewesen waren, hatten sie mehrere Manas am Himmel erspäht. Eines davon war auf einer der winzigen neuen Inseln notgelandet, die erschreckenderweise wohl alles waren, was noch an den Kontinent Cypria erinnerte. Sie war dem Eiland, auf dem sie gestern das Mädchen und den Eingeborenen gefunden hatten, sehr ähnlich gewesen – eine der raren Erhöhungen, die der gemeine cyprische Flachländer noch vor ein paar Tagen als Gipfel bezeichnet hätte. Eine kahle, felsige Fläche von rund acht mal zwölf Schritten, die keine halbe Mannslänge aus dem Meer ragte, und hätte Barrum die beiden Männer aus dem Mana nicht an Bord holen lassen, wären sie bei Einbruch der Flut ertrunken, denn ihr Sternensilber war vollständig erschöpft gewesen, und die beiden hatten keine Möglichkeit, es auf einer Insel oder dem Festland auszutauschen. Vermutlich nie wieder.
Mit der Rettung der beiden Piloten hatte sich die Zahl der Überlebenden, die Barrum hatte bergen können, jedenfalls auf klägliche fünf erhöht. Mit der Faronentochter und dem Schwarzen waren es sieben; seine vierundzwanzigköpfige Besatzung und sich selbst eingerechnet, belief sich die Zahl der ihm bekannten zivilisierten Menschheit also auf lächerliche einunddreißig Personen. Und darunter befanden sich nur zwei Frauen und ein Kleinkind ebenfalls weiblichen Geschlechts, das aber in den vergangenen Tagen so schwer erkrankt war, dass Barrum Nacht für Nacht damit rechnete, der See eine weitere Leiche übergeben zu müssen. Es war entsetzlich.
Und nun jagte auch noch ein Sturm auf sie zu.
Er hatte versucht, ihm auf einem nordöstlichen Kurs auszuweichen. Aber dann hatte der Wind gedreht, und nun klebte er ihnen so dicht am Heck, dass er Schwierigkeiten hatte, das Steuerrad zu beherrschen. Es war, als raffte die Natur all ihre Gewalten zusammen, um auch die letzten von ihnen von der Welt zu tilgen.
Barrum ärgerte sich über sich selbst, denn sogar sein hochmodernes Schiff hatte die Flut nicht ganz schadlos überstanden. Womöglich wäre er besser damit beraten gewesen, gleich einen trockenen Platz des kümmerlichen Restes der Welt aufzusuchen, statt sich als großer Retter aufzuspielen und das Meer zu durchkreuzen, um an Bord zu holen, wer noch nicht elendig ertrunken oder gleich von der unbändigen Macht der Welle erdrückt, von Trümmerteilen erschlagen oder von Haifischen in Stücke gerissen worden war.
Auf dem untersten Deck klaffte ein gezacktes Leck, das von einem heftigen Zusammenstoß mit irgendeinem großen Trümmerteil unter der Wasseroberfläche herrührte. Zwar war es ihnen gelungen, es notdürftig abzudichten, aber es sickerte trotzdem unablässig Wasser in den Innenraum. Zwei seiner Männer waren im Wechsel damit beschäftigt, Letzteres zu schrö pfen und durch eine eiligst zusammengezimmerte Schlauchkonstruktion ins Freie zurückzubefördern. Und auch die Maschinen und Anzeigen im Steuerraum wiesen eine Reihe von Macken auf, die eine saubere Navigation des Manis vom Handwerk zur Kunst erhob. Der Streckenzähler, den die Faronentochter ihren Gesten zufolge vorhin ihrem dunkelhäutigen Begleiter erklärt hatte, funktionierte ebenso wenig wie der Zeitrechner. Alles hatte sich ein wenig verzogen, wahrscheinlich war auch das eine oder andere Zahnrad im Inneren der Kästen herausgesprungen – er war noch nicht dazu gekommen, es zu überprüfen, zumal Letzteres eigentlich Aufgabe des Maschinisten gewesen wäre. Aber sein Maschinist war über Bord geflogen, als sie mit etwas kollidiert waren, das vielleicht einmal ein Langhaus gewesen war, oder ein anderes Schiff, oder sogar ein Wehrturm.
Ausgerechnet der Maschinist!
Kapitän Barrum neigte nicht zu spirituellen Gedanken. Er war ein aufgeklärter, gebildeter Mensch. Aber in den vergangenen Stunden und Tagen erwischte er sich immer häufiger dabei, nach dem großen Warum zu fragen. Warum hatte ein großer, hochziviliserter Kontinent so jäh und grausam enden müssen? Was hatten seine Menschen dieser Welt angetan, dass ihre Rache so unvermittelt und brutal erfolgte? Waren sie respektlos gewesen? Hatten sie zu viel verlangt, zu viel gewusst, zu viel genommen?
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