Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Planken und verfing sich in übel verrenkter Haltung in den Verzierungen der Reling. Ich sah den toten Blick in ihren weit aufgerissenen Augen, als sich das Schiff wieder fast gerade in die Wellen legte und ich mich auf Hände und Knie aufrappelte. Blut war aus ihren Augen, ihrer Nase, ihren Ohren und ihrem Mund gequollen, und die Widerhakenkugel steckte noch immer tief in ihrem Leib. Sie war so groß, dass sie ihren Körper fast in zwei Stücke gerissen hatte. Dennoch hielt ihre starre Hand noch immer den Kugelpuffer, mit dem sie den Feind im Alleingang besiegt hatte.
Das Schiff schwankte noch immer bedrohlich, und wahrscheinlich war irgendwo Wasser eingedrungen, denn es lag nach wie vor merklich schief in den Fluten. Aber immerhin war der Lärm jäh verklungen, und so versuchte ich, mich wieder aufzurichten, um nach Hilfe für Golondrin zu rufen. Aber ehe ich irgendetwas tun konnte, segelte ein kantiges Trümmerteil an mir vorbei. Und es kam nicht etwa von oben, sondern von der Seite. Mikkoka hatte etwas zu mir hingetreten.
»Ein Gruß von deinem Vater!«, fluchte sie wütend. »Das ist doch euer Wappen, oder?«
Ich verstand nicht, was sie von mir wollte, und es interessierte mich auch nicht. Wir mussten Golondrin helfen, den ich im letzten rotglühenden Schein des nur langsam abkühlenden Flammenwerfers in den Fluten strampeln und nach Luft ringen sah.
»Golondrin ist über Bord!«, keuchte ich, und die wenigen Worte bereiteten mir große Schmerzen. Die Reling hatte nicht nur meine Wirbelsäule, sondern auch meinen Brustkorb böse lädiert.
»Was?«, schnappte Cocha irgendwo rechts, links, vor oder hinter mir. Ich registrierte, dass ich jeglichen Orientierungssinn verlor.
»Da …«, sagte ich und deutete schwach in die Richtung, die ich für die hielt, in der ich Golondrin gerade noch gesehen hatte. »Er ist … irgendwo da draußen …«, brachte ich noch irgendwie hervor. Dann sackte ich kraftlos in mich zusammen.
Ich verlor das Bewusstsein nicht, aber alles, was sich um mich herum abspielte, geschah wie in sehr weiter Ferne. Ich vernahm die Stimmen und das Poltern der Schritte der anderen nur noch wie durch eine dicke, trübe Wand aus Glas, und als sich die Aufregung irgendwann langsam legte und Cocha mich vor der Navigationskajüte setzte und in ein dickes Fell packte, ehe er wieder mit den anderen hinter der imaginären Glaswand verschwand, war es, als gehörte der Körper, den er da bewegte, überhaupt nicht mir, sondern einer anderen, fremden Person, die einem ziemlich leidtun konnte, mir aber nicht naheging. Ich fühlte mich leer, taub und blind. Und während ich in diesem Dämmerzustand beobachtete, wie auch der inzwischen aus dem Wasser gezogene, kreidebleiche Golondrin versorgt wurde und die übrigen umhereilten, um die gröbsten Schäden am Schiff provisorisch zu beheben, nickte ich irgendwann ein.
Ich erwachte noch einige Male in dieser Nacht, und als ich die Augen am nächsten Morgen in einer fremden Kajüte wieder aufschlug, entsann ich mich nur bruchstückhaft dessen, was ich in diesen kurzen Phasen des Fastwachseins wahrgenommen hatte. Aber die wichtigsten Elemente klebten wie Kletten in meinem lückenhaften Erinnerungsbild. Golondrin war gerettet, aber mein Beutelwolf und Anna waren tot. Sie hatten die Leiche und den Kadaver dem Meer übergeben, das sich quälend viel Zeit gelassen hatte, beides zu verschlingen. Ein fremdes Schiff war gekommen, und Cocha hatte mich gestützt, als ich mich auf den Beinen der fremden Person, als die ich mich wahrgenommen hatte, über den Steg von unserem langsam, aber stetig sinkenden Kriegsmani auf das andere Schiff geschleppt hatte.
Vor allem aber wusste ich eines: Nicht Gormo hatte uns angegriffen und versucht, uns alle zu töten.
Sondern mein eigener Vater.
Dritter Teil
33
K apitän Barrum von Lurd hatte keine Zeit für die Faronentochter, ihr selbstherrliches Gerede und ihren dunkelhäutigen Freund.
Im Gegensatz zu Froh und Chita wusste er außerdem, dass Letztere längst nicht mehr war, was sie zu sein glaubte, und dass sie sich daran würde gewöhnen müssen, dauerhaft ein Mensch wie alle anderen zu sein. Und das war etwas ganz anderes, als die Erfahrung, die sie auf ihrem kleinen Fußmarsch von Silberfels nach Norgal gemacht hatte. Nicht viele hatten die große Flut überlebt, aber sie hatte ihn unten in der Kajüte nicht lange genug zu Wort kommen lassen, dass er sie von den neuen Verhältnissen hätte in Kenntnis setzen können. Und im
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