Das Mädchen aus dem Meer: Roman
meinen Schläfen einem dumpfen, vergleichsweise angenehmen Pochen wich.
Ich dachte, dass ich mich ausführlich bei Cocha entschuldigen wollte, weil ich nicht für ihn dagewesen war, als Anna gestorben war. Dass es mir leidtat und mich beschämte, dass ich vor lauter Selbstmitleid nicht einmal wahrgenommen hatte, wie schlecht es ihm ging, und ihn zudem mit ungerechten Vorhaltungen überschüttet und außerdem wie selbstverständlich erwartet hatte, dass er nie etwas Besseres zu tun hatte als sich um mich zu sorgen und mir die Welt, die mir viel zu oft viel zu egal war, in leicht verständlichen Sätzen zu erklären.
Aber das schaffte ich nicht mehr. Ich schlief auf der Stelle ein und erwachte erst nach Sonnenuntergang wieder, als ein Dienstjunge ein Tablett voller dampfender, herzhaft duftender Speisen neben mir abstellte.
Cocha war verschwunden. Er hatte Gormos Einladung dankend angenommen und mit ihm und den anderen im Großen Saal gespeist. Ich hingegen aß auch in den folgenden Tagen allein in der Kammer, die ich nur selten und zögerlich verließ, obwohl mir schnell klar wurde, dass ich tatsächlich ein freier Mensch war, dem alle Türen offen standen.
Aber diese echte, absolute Freiheit, die Markannesch mir in Montania bot, war mir so fremd, dass ich mich noch lange vor ihr fürchtete.
36
W ieder einmal war Barrums Schiff mit dem Schrecken und wenigen leichten Blessuren davongekommen, aber der Kapitän machte sich nichts vor: Einen weiteren Sturm, einen Monsun oder auch nur ein mittelschweres Gewitter würden sie wahrscheinlich nicht überstehen. Eine große Menge kleiner Lecks ließ eben auch viel Wasser durch, und wenn der Maschinenraum einmal über einen bestimmten Punkt hinaus geflutet war und das Sternensilber erstickte, waren sie voll und ganz auf die Kraft der Segel angewiesen, die sie bedauerlicherweise nicht hatten. Es gab Situationen, in denen sich der große Fortschritt als fataler Rückschritt entpuppte. Barrum hätte beide Hände für ein paar Masten, Takelage und einen Satz Wachstücher gegeben. So blieb nur zu hoffen, dass sie wenigstens noch in Schwimmreichweite einer Küste gelangten, ehe das Mani sank.
Sicherheitshalber trug er die einzige Korkweste, die die Welle ihnen gelassen hatte, persönlich in die Kajüte, in der sie die Frau mit dem kleinen Mädchen untergebracht hatten. Der rasselnde Atem des Kindes war bis auf den Gang hinaus zu hören. Ihr schiffseigener Körperkundiger betreute es inzwischen fast durchgehend mit allen Mitteln und Möglichkeiten, die die Katastrophe ihm gelassen hatte, aber Barrum bezweifelte, dass es überleben würde – selbst mit Korkweste.
Niedergeschlagen zog er sich aus der Kajüte zurück, bückte sich nach einem nassen Wandbehang auf den Planken, in dem sich Algen und Muscheln verfangen hatten, und befestigte das einst prunkvolle, jetzt nur noch glitschige und schlammige Tuch mit dem goldenen Wappen Jamas wieder an seinem alten Platz. Ein gleichsam symbolischer wie hilfloser Akt. Er hatte alles getan, was er hatte tun können. Nun blieb nur noch abzuwarten, während sie auf geradem Kurs auf die nächste neue Küste zusteuerten. Der Pilot des Manas hatte behauptet, dass es noch Festland gab. Aber je mehr Zeit verstrich, desto tiefer nagten in Barrum die Zweifel an der Zuverlässigkeit seiner Aussage, obwohl natürlich alle Logik für diese Behauptung sprach. Immerhin hatten sie ein paar karge Archipele ausgemacht, die einst die höchsten Punkte Cyprias markiert hatten, oder? Dann musste es auch noch Küsten, Inseln, Kontinente geben – wenngleich in enorm geschrumpfter Ausführung.
Andererseits hielt Barrum nach seinen Erfahrungen mit der Welle schlicht alles für möglich. Vielleicht waren ja auch alle Vulkane der Welt gleichzeitig ausgebrochen, oder es hatte nicht nur einen, sondern Hunderte oder Tausende Asteroiden gegeben, die alles Leben auf der Welt, das das Wasser nicht geschluckt hatte, gnadenlos zertrümmert hatten.
Was also, wenn die Geschichte vom Festland doch nur der verzweifelte Versuch eines weiteren traumatisierten Menschen war, Hoffnung in eine aussichtslose Situation zu lügen? Die Überlebenden der Welle reagierten allesamt unterschiedlich und ganz und gar unberechenbar auf das durchlebte Grauen. Manche waren verstört, andere verbargen ihren Schmerz hinter einer nahezu lückenlosen Mauer aus unangemessener Euphorie, einige weinten Tag und Nacht oder kauerten in den Ecken ihrer Kajüten und wippten unentwegt vor und zurück,
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