Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Hohlbein
Vom Netzwerk:
viel seelische Grausamkeit dein Bruder erleiden muss. Selbst wenn er wirklich ein Bastard wäre, wäre es ungerecht gewesen, ihn so zu behandeln«, erwiderte er. »Aber woher diese plötzliche Einsicht? Wenn mich nicht alles täuscht, änderte sich Loros Haltung mit Rossas Geburt schlagartig.«
    Obwohl ich mich längst mit dem Tod meiner Schwester abgefunden und die Konsequenzen, die meine Eltern daraus gezogen hatten, nicht nur akzeptiert hatte, sondern inzwischen sogar selbst für vernünftig befand, war mir einen Moment danach, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu schreien. Ich war mehr als angeschlagen, körperlich wie emotional, und er kratzte an einer alten Wunde, die sich mit Vernunft allein eben nicht vollends heilen ließ. Weil Rossa nicht mein Bruder ist!, wollte ich brüllen. Weil meine Mutter ein totes Kind geboren hat; einen nicht lebensfähigen Krüppel mit entstelltem Gesicht, den sie heimlich im Hinterhof verbrannt haben. Weil damit bewiesen war, dass mein Vater nicht nur einen, sondern gleich zwei mangelhafte Erben gezeugt hatte – ausgerechnet mein Vater, der zum Wohle der Allgemeinheit die Ausrottung erblicher Mängel verübte wie kein anderer, indem er die Kranken und Schwachen zu Hunderten in ein nicht existentes Paradies verfrachten ließ!
    Aber all das behielt ich für mich. Stattdessen presste ich die Lippen aufeinander und zuckte mit den Schultern.
    »Du musst über nichts reden, worüber du nicht reden willst«, erklärte Markannesch sanft, tätschelte meine Schulter und erhob sich. »Und du musst auch nicht bleiben, wenn du nicht bleiben willst. Ich sagte es bereits, aber ich wiederhole es gern: Meine Türen sind jederzeit für dich geöffnet. Von innen wie von außen. Doch bedenke, dass auch der Weg über die befestigte Straße recht weit ist. Insbesondere bei dieser Kälte ist die Reise zurück nach Lijm oder gar Jama kein Vergnügen. Wenn du möchtest, stelle ich dir ein Reittier und ein paar Männer zu deinem Schutz und Geleit zur Verfügung, aber mir wäre es lieber, wenn du meine Gastfreundschaft wenigstens für ein paar Tage in Anspruch nehmen würdest, um wieder zu Kräften zu kommen. In diesem Fall würde ich mich freuen, deine Freunde und dich heute Abend im Speisesaal empfangen zu dürfen. Aber ich kann dir auch einen Dienstjungen mit einem Tablett schicken, wenn du lieber ein wenig für dich sein möchtest. Oder mit Cocha von Kirm allein«, bot er an und zwinkerte mir zu. »Ich mag ihn übrigens. Aber deine Eltern sind alles andere als angetan von deiner Wahl. Sie mögen Viraluca und seine Familie. Doch ein Arrangement mit einem anderen Faronenkind wäre ihnen natürlich trotzdem lieber. Falls du nach Hause zurückkehrst und kein Krieg ausbricht, wirst du im kommenden Sommer eine Handvoll attraktiver, junger Männer kennenlernen. Rein zufällig, weil sie sich gerade in der Nähe herumtreiben. Vermutlich aus geschäftlichen Gründen …«
    Und als hätte er vor der Tür gewartet und gehört, dass jemand seinen Namen nannte, betrat Cocha in diesem Moment die Kammer, stutzte kurz, als er Markannesch bei mir erblickte, und setzte dazu an, sich respektvoll zurückzuziehen.
    Doch Markannesch winkte ihn lachend zurück. »Ich war ohnehin auf dem Weg nach unten. Rossa wacht bestimmt gleich auf, und ich habe ihm versprochen, mit ihm zu den Triumphstelzen zu gehen«, erklärte er und winkte mir zum Abschied zu. »Ruh dich aus und denk ein wenig über mein Angebot nach. Aber du kannst dich auch morgen entscheiden. Oder in ein paar Wochen, ganz wie du willst. Kein vernunftbegabter Mensch beginnt einen Krieg mitten im Winter.«
    Und damit rauschte er auf seinen annähernd achtzig Sommern zählenden Beinen fast unverschämt leichtfüßig auf den Gang hinaus.
    Cocha sah ihm einen Moment irritiert nach, ehe er die Tür hinter sich ins Schloss zog und sich dann mit ungewohnt düsterer Miene auf seinem Bett ausstreckte, um das Gesicht sogleich in seiner Armbeuge zu verbergen.
    »Irgendetwas, das mich interessieren sollte?«, grummelte er desinteressiert, und auch das war eine Art, die ich von ihm bis dahin nicht gekannt hatte.
    »Ja«, antwortete ich nach einem Moment und ließ mich ebenfalls auf mein Bett fallen. »Und zwar, dass es mir leidtut«, sagte ich leise, aber ehrlich, und spürte dabei, wie die Erschöpfung der vergangenen Wochen die Gunst des Augenblicks nutzte, mich mit einem Schlag übermannte und scheinbar einen halben Meter tief in die weiche Matratze drückte, während das Stechen in

Weitere Kostenlose Bücher