Das Mädchen aus dem Meer: Roman
trotzdem.
»Es gibt keine Götter?«, hörte er sie spotten, lange bevor er Vulkas Kranken Berg erreichte, auf dessen Gipfel sie harrte – mit in die Hüften gestemmten Fäusten und leicht verärgert wirkendem Gesicht. »Wenn es keine Götter gibt, Froh: Wer hat dann all das geschaffen?« Sie vollführte eine ausholende Geste, die das ganze Universum einzuschließen versuchte. »W as war am Anfang der Zeit, Froh?«
»Nichts«, antwortete Froh und versuchte, weiter an sie heranzugelangen. »Am Anfang der Zeit war nichts. Und irgendwann war da etwas. Und aus diesem Etwas wurde mehr.«
»Von nichts kommt nichts«, erwiderte Niedlich und streckte eine Hand nach ihm aus, um ihn ganz in seine Welt zurückzuziehen. »Zwischen Nichts und Etwas braucht es eine göttliche Kraft. Und du und ich – wir befinden uns dazwischen.«
Froh blickte sich in der Welt um, die er für seine gehalten hatte, und erkannte, dass er sich getäuscht hatte. Es war nicht das Meer. Es war nicht Vulkas Kranker Berg, und da war auch kein Fels unter seinen Füßen.
Was er sah, hörte, schmeckte, roch und fühlte, waren nur Erinnerungen.
Erinnerungen an morgen.
»Dazwischen?«, wiederholte er verwirrt. »Was ist dazwischen?«
»Zwischen Nichts und Etwas ist Liebe. Die Götter sind Liebe«, antwortete Niedlich lächelnd. »Du bist ein Teil ihrer Schöpfung. Und wenn du dich auf andere Teile der Schöpfung berufst – auf die Welle und die Erdenkugel und Sterne und die Sonne und andere Planeten, auf das Universum und auf alle andere Universen daneben – dann ist es, als ob ein Teil eines Bildes versucht, seinen eigenen Maler anhand anderer Teile seines Bildes zu verleugnen. Aber der Maler hat dir die Fähigkeit gegeben, ihn infrage zu stellen. Folglich wird er dir deine Zweifel nicht verübeln«, lachte sie. »Kannst du die anderen sehen?«
»Die anderen?« Froh schaute sich um, doch sie waren allein. »Welche anderen?«
»Die anderen Überlebenden«, antwortete Niedlich. »Den Medizinmann und das alte Kräuterweib. Die Kinder der Hirtensippe und die Krocken.«
»Nein«, antwortete Froh.
»Weil du sie nicht liebst«, lächelte Niedlich. »Aber sie sind da. Alles, was existiert, ist Schöpfung, ist Liebe. Danke, dass du gekommen bist. Und nun sieh zu, dass du deinen Hängehintern von hier fortbewegst. Du Trottel.«
»Was?«
»Ich sagte, du sollst verschwinden«, lächelte Niedlich und wich einen Schritt vor ihm zurück. Schwebend, unwirklich.
Froh klammerte sich an ihre Hand. »Niemals!«, entfuhr es ihm.
»Doch«, beharrte Niedlich, und ihre Hand löste sich zwischen seinen Fingern in Nebel auf. »Geh, Froh. Kehre zurück ins Etwas. Damit du bald zu mir zurückkommen kannst. Ich brauche dich. Mehr als je zuvor.«
Und damit löste sie sich auf. Und mit ihr Vulkas Kranker Berg, seine Welt, das Meer, die Erdenkugel, das Universum.
Froh kehrte zurück in seinen Körper.
38
D as war gemein von Barrum, Froh. Ich will dich nicht totquatschen – was für ein Begriff! Natürlich tut es mir gut zu reden; das habe ich doch schon zugegeben. Aber allem voran will ich, dass du spürst, dass ich bei dir bin. Und dass ich dich brauche. Ebenso gut könnte ich in einem fort auf meiner Flöte spielen, aber ich kenne nicht viele Melodien. Damit würde ich uns beide nur langweilen.
Du musst wieder aufwachen, und dann werden wir beide nach Cocha und meiner Familie suchen. Und natürlich nach deiner … Wie war ihr Name? Friedlich. Nein: Niedlich. Ja, du hast sie Niedlich genannt.
Bestimmt ist sie sehr traurig, weil du fortgegangen bist. Unabhängig davon, ob es deine Götter nun gibt oder nicht, glaube ich, dass es falsch war, die Frau, die du liebst, zu verlassen. Wegen einer gestohlenen Muschel, Froh! Das kann doch nicht dein Ernst sein. Ich meine: Hältst du dich wirklich für so wichtig, dass deine Götter ein Baby töten, nur um dir mitzuteilen, dass Muscheln vom Opferfelsen zu klauen nicht besonders nett ist? Eine eigenwillige Form von Größenwahn, wenn du mich fragst. Aber es ist nicht so, dass ich dich nicht wenigstens ein bisschen verstehe. Auch ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass ich nicht halb so wichtig bin, wie ich immer geglaubt habe.
Zumindest nicht meinem Vater.
Ich blieb in Montania, weißt du? Ich gewöhnte mich an die Freiheit, und ich freundete mich bald so sehr mit ihr an, dass ich sie nie wieder missen wollte. Das war nicht mein Plan gewesen. Es hatte sich einfach so ergeben.
Innerhalb der ersten anderthalb Tage
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