Das Mädchen aus dem Meer: Roman
während sie ins Leere starrten, und die kleine Faronentochter redete und redete und redete.
Auch jetzt vernahm er ihre Stimme dumpf durch das Holz der Tür, die seine Männer hinter ihr verriegelt hatten, und Barrum beschloss, kurz nach ihr zu sehen und ihr wenigstens das Nötigste der grausamen Wahrheit zu vermitteln. Vermutlich würde er sie dazu knebeln müssen, dachte er bei sich, während er seufzend den Riegel zurückschob. Doch als er sie auf den Planken zu seinen Füßen erblickte, sah er sich zunächst einmal mit einem ganz anderen Problem konfrontiert: Der schwarze Junge war wieder ohne Bewusstsein, und richtig schwarz war er auch nicht mehr. Seine Lippen hatten sich bläulich verfärbt, und seine Schläfen wirkten blass und schuppig, als hätte jemand versucht, die Farbe von seiner Haut zu schmirgeln. Auf den ersten Blick erkannte Barrum, dass das nichts mehr mit der kurzzeitigen Ohnmacht zu tun hatte, in der sie ihn von dem Felsen geborgen hatten.
Diese Bewusstlosigkeit würde ganz bestimmt nicht sanft in einen tiefen, erholsamen Schlaf übergehen. Der Primitive starb. Und Jamachita hielt seinen leblosen Leib in den Armen und redete und redete und redete …
»Was tust du da?«, fluchte der Kapitän und schob die Faronentochter beiseite, um sich selbst über Frohs schlaffen Körper zu beugen. »Willst du deinen Freund totquatschen, oder was hast du dir dabei gedacht? Warum hast du nicht um Hilfe gerufen?«
»Ich habe um Hilfe gerufen«, verteidigte sich Chita, der der ungerechte Vorwurf glatt die Tränen in die Augen trieb. »Aber mich hat ja niemand gehört. Deine hirnlosen Hampelmänner haben uns hier eingeschlossen!«
»Weil …«, begann Barrum, winkte dann aber entnervt ab. »Geh und hol den Körpermeister. Er ist gleich nebenan bei der Frau mit dem kleinen Mädchen.«
Chita gehorchte, und der Körpermeister eilte herbei, lauschte an Frohs Brust, blickte unter seine Lider und tastete seinen schlaffen, ausgedörrten Leib ab, ehe er kurz verschwand, um bald darauf mit einem Kautschukschlauch und einem prallen Wasserschlauch zurückzukehren.
Chita hielt Frohs Kopf, während der Körperkundige die elastische Kautschukröhre durch seine Speiseröhre schob, und Barrum rief zwei seiner noch halbwegs kräftigen Männer herbe i, die den Primitiven auf die Pritsche hoben, wo der Körperkundige ihn sorgsam in Felle und Decken packte und den Wasserschlauch an der Wand darüber befestigte, damit die Flüssigkeit durch den Kautschukschlauch in seinen Magen tropfte.
»Er ist so gut wie verdurstet«, erklärte er dabei auf die resignierende Weise, mit der er seine Arbeit seit der Welle zu verrichten pflegte. »Ich weiß nicht, ob es noch etwas nützt. Aber mehr kann ich nicht für ihn tun.«
Er tätschelte Chitas Schulter und kehrte zu dem Mädchen im Nebenraum zurück, und Barrum verließ die Kajüte mit hängenden Schultern. Auch er, dachte er, konnte nichts für die beiden tun.
Außer vielleicht, sie doch noch eine Weile mit der Wahrheit zu verschonen.
37
F roh reiste in den Himmel hinauf und sah die Welt, die eine Kugel war. Eine blaue Kugel, die im Nichts schwebte, ein riesiger Ball voller Wasser, das fremde Länder und Inseln umspülte: Welten, von denen er nie zuvor gehört hatte, nicht einmal von Chita. Manche waren so groß, dass seine eigene mehr als zwanzig Mal hineingepasst hätte. War es das, was sie Kontinente nannte?
Er sah Sterne im Nichts funkeln und glänzen, und eine Kugel brennen, die die Sonne sein musste, die niemals ins Meer tauchte. Froh sah den Mond und andere Kugeln, die andere Erden in anderen Farben sein mochten, oder einfach nur runde Dinger aus farbigem Nichts, er wusste es nicht, und er verspürte auch nicht den Drang, weiter hinauszutreiben und nachzusehen, denn alles, was er denken konnte, war: Niedlich …
Und jedes Mal, wenn er an ihren Namen dachte oder an ihr Gesicht oder ihre Hände oder auch nur ihren Geruch, war ihm, als drückte ihn eine riesige, unsichtbare, warme Kraft zurück in die Welt, die er kannte. In die Welt, die sein Zuhause gewesen war, in die Welt, die seit der Welle mit Vulkas Berg begann. Denn wo der Fuß des gigantischen Gebirgsmassivs die Wälder hätte berühren müssen, die nach mehreren Tagesmärschen an den Strand grenzten, entdeckte er jetzt nur noch Wasser, Meer und noch mehr Wasser. Wasser rund um die Welt, die keinen Rand hatte.
Chitas Geschichte war wahr, die Welle war wahr, und Froh sah keine Götter.
Aber Niedlich lebte
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