Das Mädchen aus dem Meer: Roman
euch nichts. Wir opfern den Göttern. Du bist keine Göttin, das hast du selbst gesagt.
Ja. Und das ist die Wahrheit. Ich bin keine Göttin, und auch jene, die euch mit ihren ruderlosen Schiffen besuchen oder schier vom Himmel zu euch hinabsteigen, sind keine Götter. Auch sie sind Menschen wie ich, Froh. Menschen, die von anderen Menschen bekommen, weil sie sie für etwas halten, das sie nicht sind. Weil sie sich schlicht nicht erklären können, woher diese anderen Menschen kommen könnten, die so ganz anders aussehen als sie selbst, und die in Manas über ihren Köpfen schweben und in ihrer Sprache zu ihnen sprechen und … sie belügen. Das ist es.
Sie – also wir – belügen euch bewusst, um eurem Irrglauben neue Nahrung zu liefern, damit ihr ja nicht aufhört, uns mit Dingen zu beschenken, die ihr selbst mehr als gut gebrauchen könntet, um den Fortschritt voranzutreiben oder – und das ist das Schlimmste – eure Kinder am Leben zu erhalten.
Du redest wirr. Du könntest die Götter damit erzürnen, aber sie sind gut und gnädig. Bestimmt werden sie es dir nachsehen, denn du hast schlimme Dinge erlebt.
Lass mich von unserem Handelsfest erzählen.
Wenn es so wäre, wie du sagst, dann wäre das nicht die richtige Bezeichnung, oder?
Das kann man so oder so sehen. Wenn du meinen Vater fragst, wird er dir erklären, dass auch unsere Verbindung zu euch gewissermaßen geschäftlicher Natur ist. Ihr gebt uns Cypriern, was wir verlangen, und wir bieten euch die Sicherheit, eure Häuser und Dörfer und Felder und Herden nicht anzurühren. Denn das könnten wir, wenn wir wollten. Wir könnten alles, was euch gehört, allein für uns beanspruchen, denn wir besitzen Waffen, deren Zerstörungskraft du dir in deinen wildesten Träumen nicht vorstellen kannst. Außerdem wahren wir den Frieden unter den Primitiven, denn wir sorgen dafür, dass sie viel zu sehr mit sich selbst und ihren Ideen von Göttern und überirdischen Kräften beschäftigt sind, sodass sie gar keine Zeit finden, neben all dem Beten, Preisen und ums Überleben kämpfen allzu weit aus ihrer eigenen kleinen Welt auszubrechen, um vielleicht anderen Kulturen zu begegnen, denen sie unter Umständen schaden könnten. So gesehen ist es ein Geschäft. Ein Geben und ein Nehmen.
Es ist nicht in Ordnung, ich weiß. Ich glaube nicht an irgendeinen Gott, trotzdem kommt es mir nicht richtig vor. Und ich wollte, dass sich die Verhältnisse ändern, ich wollte eine Revolution, und ich werde alles tun, um mehr Gerechtigkeit einkehren zu lassen, sobald ich Faronin von Ljim und Jama bin. Ich verspreche es dir.
Aber damals konnte ich noch nichts Verwerfliches daran erkennen. Du erinnerst dich? Die Verhältnisse, unter denen man aufwächst …
Man nimmt vieles hin und stellt selten etwas infrage. Die Dinge sind, wie sie sind, und deine Eltern werden nicht müde, dir zu erzählen, dass sie gut und richtig sind. Damals erschien mir alles noch perfekt. Das System funktionierte, wie mein Vater so schön sagte. Und wenn du einmal in einem Mana geflogen bist, weißt du ein gut funktionierendes System sehr zu schätzen …
Auf dem Handelsfest startete übrigens auch ein Mana. Aber lass mich die ganze Geschichte erzählen.
Das Pflaster war also schon gerammelt voll, als wir aufbrachen. Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge, Arme und Reiche … Eine ganze Kolonne von Wagen, die von Pferden oder Ochsen gezogen wurden, bewegte sich schon in Richtung Kirm, begleitet von reichlich Fußvolk, das von unserem leicht erhöhten Standpunkt am Tor wie eine Ameisenstraße wirkte, die sich zielstrebig auf einen Apfelbutzen zubewegte. Zum Glück mussten wir uns nicht in die Masse einreihen, denn wir wollten in die Stadt reiten, wozu wir nicht auf die Straße angewiesen waren. Es gab genug enge, aber zu Pferde leicht zu bewältigende Pfade, die durch die Wälder führten, und die zweite Hälfte des Weges führte bloß über ein paar Äcker, die für unsere Tiere selbstredend noch weniger ein Hindernis darstellten. Lediglich unser Karren musste den (an solchen Tagen undankbaren) Weg über die richtige Straße nehmen, denn selbst wenn wir einen Umweg über ein paar möglichst breite Pfade in Kauf genommen hätten, wäre die Gefahr, dass eine Achse brach oder die Räder heraussprangen, viel zu groß gewesen.
Bis zu diesem Sommer hatte ich immer mit den anderen Kindern, die keine eigenen Pferde besaßen, zwischen den Zuckerbeuteln auf dem Karren, oder zumindest vorne auf dem Bock neben
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