Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Aufmerksamkeit unseres Volkes auch später vom Balkon des Rathauses aus noch genießen, so wie jeden Sommer. Aber so nah dabei zu sein und in all diese staunenden, aufgeregten, glücklichen Gesichter zu blicken, den Jubel und den Applaus und die Rufe dieser Menschen zu hören, die alles um sich herum vergaßen, nur weil wir da waren …
Na, du kannst dir bestimmt nicht vorstellen, wie so etwas ist, aber ich kann dir versichern, dass man kaum genug davon bekommen kann.
Es war Cocha, der Sohn des Statthalters von Kirm, der mich jäh von meinem hohen Ross holte – und das nicht nur im übertragenen Sinne.
Er war etwas älter als ich, aber jünger als mein Bruder. Bis zu diesem Tag hatte ich noch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Wir waren einander zwar schon ein paarmal begegnet, aber er mied uns gewöhnlich nach Kräften. Warum, wusste ich damals noch nicht. Darum hielten Sora und ich ihn schlicht für einen arroganten Gänserich, der sich nicht mit jedem abgab. Nicht mal mit den Kindern des Faros.
Er war ein Sonderling, ein ruhiger, zurückhaltender Junge, der sich auch durch sein Äußeres von den überwiegend hellblonden, blauäugigen Kindern der Insel abhob. Sein Haar leuchtete kupferrot und stand in alle Himmelsrichtungen ab. Seine Augen waren zwar blau, aber viel heller als alle, die ich je zuvor gesehen hatte – sogar heller als die meiner Mutter. Und auch seine Haut war heller als unsere.
Dann war sie wohl auch aus … Glas?
Mach dich nicht ständig über mich lustig. Ich habe den Eindruck, je mehr ich dir erzähle, desto weniger glaubst du mir. Aber du wirst es schon noch selbst sehen, wenn wir Cypria erreichen.
Ganz unrecht hast du allerdings nicht. Immerhin war seine Haut wirklich so hell, dass sie – besonders im Winter – fast durchsichtig wirkte. Im Sommer hingegen nahm sie einen kräftigen, rosaroten Ton an, denn er vertrug die Sonne nicht gut. Zu seinem rötlichen Haar bildete seine Hautfarbe dann einen Kontrast, der nicht besonders hübsch anzusehen war, und außerdem hatte er in den vergangenen Monaten ordentlich zugelegt. Dick war er nicht, aber auch nicht eben schlank.
All das fiel mir auf, als plötzlich seine Stimme dicht neben mir ertönte; eine Stimme, die für ein Kind enorm kräftig und außergewöhnlich tief war.
»Bist du hier, um dich um den freien Kehrerposten zu bewerben?«, erkundigte er sich, und ich flog vor Schreck fast aus dem Sattel, denn ich hatte überhaupt nicht gemerkt, dass er sich auf seinem Pferd zwischen Moijo und mich geschummelt hatte. Sora, der zu meiner Rechten ritt, reagierte geistesgegenwärtig, erwischte mich am Kragen und hob mich lachend in den Sattel zurück – der einzige Grund, warum ich nicht im Dreck landete.
Moijo grummelte einen Tadel, von dem ich nicht wusste, ob er an mich oder Cocha gerichtet war, Soras neuer Lehrer rief »Hallo Gormo!«, was Moijo zu tiefem Stirnrunzeln und Sora zu weiterem Gelächter animierte, und Cocha betrachtete mich mit einer verächtlich hochgezogenen Braue von der Seite. Ich warf den Kopf in den Nacken und erwiderte seinen Blick mit einem Naserümpfen.
»Cocha!«, fauchte ich. »Scher dich zu den Primitiven, wo du hingehörst!«
Cocha hob gleichgültig die Schultern.
»Ich wollte dir nur behilflich sein«, behauptete er. »Ich hätte dir zeigen können, wer dich einarbeiten kann.«
»Wie kommst du darauf, dass ich euren Dreck wegkehren will?«, ranzte ich empört. »Du weißt doch, mit wem du sprichst, oder?«
»Verzeih, Faronentochter«, entschuldigte sich Cocha halbherzig. »Du reitest eben, als hättest du einen Besenstiel im Arsch.«
Mir stockte der Atem ob so viel Dreistigkeit – so hatte in meinem ganzen Leben noch niemand mit mir gesprochen (außer meinem Bruder vielleicht), und ich fühlte mich verbal dermaßen geohrfeigt, dass ich überhaupt nicht wusste, wie ich reagieren sollte. Also lief ich nur granatapfelrot an und ließ den Blick Hilfe suchend zwischen Sora und Moijo hin und her flackern.
Aber Moijo versetzte dem Sohn des Bürgermeisters nur eine wenig temperamentvolle Ohrfeige, die Cocha kaum mehr als ein Wimpernzucken entlockte, und Sora lachte sich bloß schlapp. Ich glaube, wenn er neben Cocha geritten wäre, hätte er ihm für seine Frechheit auf die Schulter geklopft. Bis gerade hatte er ebenso wenig von dem pummeligen Bengel gehalten wie ich. Aber plötzlich fand er ihn offenbar okay, was ich wiederum als Hochverrat empfand.
Ich presste die Lippen aufeinander und beschloss im Stillen,
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