Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Ohrfeige zu verpassen, die ihn vermutlich noch einmal von den Füßen gerissen hätte, hätte mein Lehrmeister ihn nicht vorsorglich an den Haaren gepackt, ehe er zuschlug. Sora nahm Anlauf, um Cocha in den Rücken zu springen, aber Markannesch reagierte so geistesgegenwärtig, dass ich für einen kurzen Moment heimlich spekulierte, dass er uns seine Senilität und seine Gebrechen nur vorspielte. Er schlang die Arme von hinten um Soras Oberkörper und stellte ihn mit einer Beiläufigkeit und Leichtigkeit an seinen Platz vor der Brüstung zurück, mit der andere Leute vielleicht eine Hülsenfrucht auf den Teller zurückgeschoben hätten, die über den Rand gekullert war.
Zu meiner Enttäuschung verzichtete Moijo darauf, Cocha an Ort und Stelle mit der Tracht Prügel zu beehren, die er meiner Meinung nach verdient hatte, sondern nahm nur eines seiner hochroten Ohren zwischen die Finger und zerrte ihn ins Haus.
Aber bevor sie ganz hinter den dicken Vorhängen verschwanden, schaffte Cocha es trotzdem, sich noch einmal halb zu uns herumzudrehen.
»Idioten!«, sagte er mit seiner dunklen, auch jetzt noch ruhigen Stimme, was Moijo dazu veranlasste, seinem nächsten Schritt mit einem kräftigen Ruck an seinem Ohr ein bisschen Zunder zu verleihen.
Eine Magd eilte herbei und trocknete meine Hand mit einem sauberen Tuch. Ich sah Sora an. »Was ist denn mit dem los?«
Sora zuckte die Schultern, während er Cocha irritiert nachblickte. Er wirkte noch immer wütend, in erster Linie aber enttäuscht. Vor weniger als einer Stunde war Cocha dank seines losen Mauls auf der Leiter seines Ansehens eine Sprosse emporgeklettert – nun hatte er sich, mit voller Absicht offenbar, wieder in die Tiefe gestürzt.
» Ich habe keine Ahnung«, gestand Sora nachdenklich, macht e dann eine wegwerfende Geste, hielt der Magd die Rechte ebenfalls zum Reinigen hin, weil noch immer Blut und Krümel daran klebten, und griff dann wieder in den Zuckerkorb. »Aber von dem lasse ich mir den Tag nicht verderben«, entschied er und schleuderte ein paar Trauben auf den nächsten Wagen. »Ganz bestimmt nicht. Sieh! Da ist er schon!«
Damit meinte er den Wagen, der einzig zu Ehren unserer Familie rollte. Er war vollständig vergoldet, wurde von reinweißen Pferden mit goldenen Flügeln und edelsteinbesetzten Rüstungen gezogen und transportierte neben einem guten Dutzend sehr leicht bekleideter, wunderschöner Frauen einen riesigen Thron, auf dem ein Mann in einem hellblauen Gewand stand, den man nach allen Regeln der Körperkunst zum Kondor, unserem Wappentier, gemacht hatte.
Körperkunst?
Unsere Körpermeister hatten sich selbst übertroffen. Man hatte ihn mit den gigantischen Schwingen eines Kondors versehen – in allen Farben des Regenbogens leuchteten die eingefärbten Federn auf seinem Rücken, und es hätte mich nicht gewundert, wenn er sie plötzlich ausgebreitet hätte, um sich aus dem Stand in die Lüfte zu erheben. Die untere Hälfte seines goldglänzenden Gesichts war unter einem riesigen, ebenfalls goldenen Schnabel verborgen – ein richtiger Schnabel, aber nicht der eines Kondors, sondern der eines Wundervogels, weil es von der Größe und Form her besser passte.
Du kennst sie nicht. Sie sind riesengroß, so groß, dass sie zu schwer sind, um wirklich zu fliegen, aber traumhaft schön, glaub mir.
Jedenfalls – er stand da auf dem Thron und breitete herrschaftlich seine Schwingen aus, und dann klappte er den Unterkiefer herunter, und der Schnabel öffnete sich. Sie, also unsere Körperkundigen, hatten es tatsächlich geschafft: Mit all ihrem Wissen und ihrem Geschick an Fleisch und Blut hatten sie ein Wesen erschaffen, das halb Mensch und halb Vogel war. Eine Kreatur, wie eines dieser Fabelwesen, die zuhauf an Höhlen- und Tempelwände gemalt werden …
Ich war unendlich beeindruckt und schleuderte wie von Sinnen Süßigkeiten auf den Wagen. Manches von dem, was ich warf, traf den Vogelmann, doch offenbar tat ihm nichts weh, nicht einmal die harten Äpfel, denn er schwankte nicht, als ihn ein solcher an der Stirn traf.
Der Rah-Wagen rollte am Rathaus vorüber und verschwand in den engen Straßen der Stadt, und dann kam auch schon das Mana.
Es kam geflogen?
Nein. Es wurde auf einem Rollbrett von sechs hübsch geschmückten Yaks in die Mitte des Marktplatzes gezogen. Es war gigantisch – das größte, das ich je zu Gesicht bekommen hatte – und, wie die Pferde des Rah-Wagens, mit goldenen Flügeln versehen. Nur waren diese
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