Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Das Reiten war meine große Liebe und das Ballringen mein Steckenpferd, aber mein größtes Talent (abgesehen vom Balancieren auf Zeit, doch auf sportliche Disziplinen kann man sich leider nicht spezialisieren) war der Umgang mit verschiedenen Sprachen.
Ich war keine fleißige Schülerin. Ich war trotzig und stur und forderte Moijos Autorität bis zum Schluss immer wieder heraus. Doch was fremde Sprachen und auch das Lesen und Schreiben anbelangte … Es war einfach da. Ich hörte ein Wort in einer fremden Mundart und wusste mit ziemlicher Sicherheit, was es bedeutete. Ich würde nach Silberfels reisen und eine Sprachkundige werden, das war so gut wie sicher, und ich freute mich schon sehr auf dieses große Abenteuer.
Eines Nachts – es war im tiefsten Winter – schreckte ich auf, weil sich neben mir etwas regte. Ich meine: Nicht irgendwo im Zimmer, sondern direkt neben mir. In meinem Bett. Mein Herz hüpfte mir bis zum Hals, wo es in irrsinnigem Tempo pochte, und ich setzte mich so plötzlich kerzengerade auf, dass mir schwindelte. Jemand lag unter meiner Decke, und ich hatte schon ausgeholt, um meine Faust auf die Gestalt hinabsausen zu lassen, die da einfach so, mir nichts, dir nichts, in meinen Kissen ruhte, als ich im Schein des Monds, der durch das große Fenster über mir fiel, erkannte, dass es Sora war.
Er musste schon vor längerer Zeit in mein Zimmer geschlichen und zu mir unter die Damastlaken und Yak-Felle gekrochen sein, denn er schnarchte leise und schlief tief und fest – nicht einmal meine hastige Regung hatte seine Träume gestört. Ich ließ die Faust irritiert sinken, wartete, bis ich mich ein wenig beruhigt hatte, und berührte ihn dann zaghaft im Nacken.
»Sora?«, flüsterte ich verwundert. »Was machst du in meinem Bett?«
Mein Bruder schmatzte und drehte sich auf die andere Seite. Ich schüttelte ihn.
»Sora!«, zischte ich streng, aber nur gerade so laut, wie es möglich war, ohne einen der Krieger zu alarmieren, die auch im Haus und in dunkelster Nacht ihre Runden zogen. »Wach auf!«
Seine Schultern zuckten, er wälzte sich wieder auf die andere Seite und öffnete ein Auge, aber nur zur Hälfte.
»Also langsam verliere ich die Geduld«, schimpfte ich leise. »Das hier ist mein Bett. Und ich brauche mein Bett. Ich brauche den Platz, und ich brauche meinen Schlaf. Sora?« Ich legte den Kopf schräg und betrachtete ihn beunruhigt. Ich war nicht wirklich verärgert darüber, dass er in mein Bett gekommen war. Ich wusste nur nicht, wie ich damit umgehen sollte. Das hatte er noch nie getan.
»Bist du krank, Sora?«, fragte ich.
Mein Bruder gähnte, rieb sich die Augen und richtete sich auf die Ellbogen auf.
»Ja«, antwortete er geradeheraus. »Ich bin krank. Ich habe einen Mangel.«
Das war nichts, was ich nicht längst wusste – wenngleich mir die Details bis zu dieser Nacht völlig unbekannt waren. Trotzdem erschlafften meine Züge vor Überraschung über so viel unvermittelte Ehrlichkeit.
»Du hast einen Mangel ?«, hakte ich nach, wobei ich mich darum bemühte, möglichst zweifelnd zu klingen. »Was für einen Mangel hast du denn? Und warum liegst du in meinem Bett?«
»Weil ich bei dir sein wollte, Chita«, erklärte Sora unbehaglich. »Ich konnte nicht schlafen. Da waren so viele Dinge in meinem Kopf, die mich nicht in Ruhe ließen. Ich … hatte Angst.« Er lächelte zerknirscht und schlug Laken und Felle zurück. »Aber es geht schon wieder. Gute Nacht, Lieblingsschwester.«
Ich hielt ihn am Handgelenk fest, als er einfach verschwinden wollte.
»Das meinst du nicht ernst, oder?«, erkundigte ich mich verständnislos. »Du schlüpfst heimlich in mein Bett, störst meinen wohlverdienten Schlaf, knallst mir an den Kopf, dass du einen Mangel hast und dass du dich gefürchtet hast, und dann willst du einfach wieder verschwinden? So geht das nicht.« Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Mein großer Bruder ist der stärkste, tapferste, klügste und gesündeste Mensch der Welt. Und mein großer Bruder fürchtet sich vor nichts«, erklärte ich.
Sora ließ sich wieder zurücksinken, zog mich zu sich heran und bettete meinen Kopf auf seine Brust. Widerwillig ließ ich es geschehen. Ich war völlig durcheinander, und ich machte mir Sorgen um ihn.
Als ich behauptet hatte, dass er der größte, stärkste, und gesündeste Mensch sei, den ich kannte, hatte ich gelogen: Wenn ich die Augen schloss und an ihn dachte, dann war er das. Ich wollte, dass er das war, denn so hatte
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