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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Hohlbein
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Gedanken gemacht. Und zumindest auf diese Frage hatte ich eine akzeptable Antwort gefunden, wie ich meinte. »Niemand hat die gleichen Ohren wie ein anderer Mensch. Nur das Paar, das zusammengehört, passt auch zusammen. Und die Ohren und die Nase wachsen ein Leben lang. Wie sähe es aus, wenn das neue Ohr langsamer oder schneller wüchse als dein eigenes? Nein, das willst du nicht wirklich, Sora.«
    Mein Bruder lachte bitter. »Wenn ich die Vögel danach wieder mit beiden Ohren zwitschern hören könnte und auch das Rauschen der Blätter im Wind«, meinte er schließlich, »dann würde ich mir freiwillig Markanneschs Nase dazugeben lassen. Und zwar auf die Stirn. Es ist sehr anstrengend, nur mit einem Ohr zu hören. Die meisten Geräusche nimmt man trotzdem wahr, nur nicht so gut. Aber man kann kaum bestimmen, woher sie kommen, und außerdem schadet die einseitige Taubheit dem Gleichgewichtssinn. Ich werde mich nie daran gewöhnen.«
    »Warum hast du denn dann kein neues Ohr bekommen?«, wollte ich wissen.
    »Zum Ersten, kleines Dummchen, nützt es mir ohnehin nichts, denn nicht meine Ohrmuschel ist kaputt, sondern mein Innenohr, und da wird es schon ein wenig komplizierter. Selbst der gute Hommijr dürfte seine liebe Not haben, sich daran zu beweisen«, erläuterte Sora belustigt. »Und zum Zweiten bin ich es Vater nicht wert. Nicht das Ohr und nicht das Herz.«
    Ich schüttelte den Kopf so heftig, dass mir die geflochtenen Zöpfe abwechselnd gegen den Hinterkopf und ins Gesicht klatschten.
    »Du bist sein Sohn «, betonte ich und versuchte verzweifelt, mir selbst zu glauben. »Er liebt dich mehr als alles andere auf der Welt. Nach mir.«
    »Dennoch bin ich ihm nichts wert«, beharrte Sora. »Nicht das Schwarze unter den Nägeln. Und erst recht keine kostspielige Behandlung. Ich glaube, er hofft Tag für Tag, ich möge vom Pferd fallen und mir das Genick brechen. Mit einem tragischen Unfall wäre er fein raus. Er müsste sich nicht erklären, er müsste niemals zugeben, dass er einen Versager gezeugt hat – einen verantwortungslosen, selbstverliebten Simpel, dem die Rauschmittel und das kurze Vergnügen mehr bedeuten als das Volk, das er eines Tages regieren soll.«
    »Wie kommt er darauf?« Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte, aber obwohl Sora unerschütterlich lächelte, während er mich mit diesen schrecklichen Dingen konfrontierte, wusste ich, dass er die Wahrheit sagte. Seine Augen waren ernst. Und unendlich traurig.
    »Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich dir mein kleines Geheimnis gezeigt habe?«, fragte er. »An die Geschichte mit dem Knallfischer? An unseren Ausflug zu den Korallenriffen, aus denen diese wunderschöne Musik erklang?«
    Ich nickte. Selbstverständlich erinnerte ich mich. Ich würde es niemals vergessen.
    »Ich war ein wenig durcheinander, als ich dir den Weg durch das Riff zeigte«, erklärte Sora. »Ich … hatte Angst, dass ich vielleicht schon am nächsten Morgen nicht mehr erwache und … Na ja. Wir waren noch klein. Und ich fand es wunderschön. Also, bis der Knallfischer kam. Jedenfalls wollte ich unbedingt, dass du es siehst. Wenn ich starb – wer hätte es dir zeigen sollen?« Er zuckte die Schultern. »Ich kam geradewegs von Hommijr. Er hat mich auf Herz und Nieren untersucht, denn am Abend zuvor hatte Carthun mich mit Ruggio hinter den Ställen erwischt. Erinnerst du dich an ihn?«
    Wieder nickte ich. Ruggio hatte eine Weile in den Ställen gearbeitet, aber nur eine kleine. Er war ein Waisenkind von knapp vierzehn Sommern gewesen, das meinen Eltern auf einer Straße in Kirm aufgefallen war, wo er jungen Frauen für ein wenig Brot oder ein paar Münzen die Haare geflochten oder Tiere und Karren wohlhabender Händler auf dem Wochenmarkt gehütet hatte. Sie hatten ihn vorläufig aufgenommen und – wie es offiziell hieß und ich bis zu dieser Nacht auch geglaubt hatte – später an eine gute Pflegefamilie vermittelt.
    »Ruggio hatte Glitzerwasser aus Kirm mitgebracht«, erzählte Sora weiter. »Ich glaube, er hat es gestohlen; aber das juckte mich damals herzlich wenig. Verbotene Dinge zu stehlen, kann so niederträchtig nicht sein, oder? Außerdem hatte er Rauchwaren, die sehr abenteuerlich dufteten und nur ganz wenig im Hals kratzten, wenn man sie inhalierte …
    Ich habe mich nicht nur einmal nachts aus meinem Zimmer geschlichen, um mich mit Ruggio zu treffen. In den Wochen, die er in den Ställen arbeitete, verbrachte ich sicherlich sechs oder sieben Nächte mit

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