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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Hohlbein
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ich ihn kennengelernt. Mein Respekt und meine Liebe zu meinem Bruder verlangten von mir, ihn genau so und nicht anders zu sehen. Aber meine Augen sagten mir etwas anderes, und das nicht erst seit Kurzem.
    Sora war dreizehn Jahre alt, und eigentlich hätte er sich langsam zum Mann entwickeln müssen. Ein Flaum hätte auf seiner Oberlippe sprießen sollen, sein Körper hätte anfangen müssen, in die Breite zu wachsen, statt immer nur in die Höhe, seine Proportionen hätten sich sichtlich verändern sollen. Aber nichts von alledem war geschehen.
    Ich redete mir ein, dass das Erwachsenwerden bei ihm eben ein bisschen später einsetzte als bei den meisten anderen Jungen, die ich kannte, und dass besonders gute Dinge eben besonders viel Zeit brauchten. Ich redete mir außerdem ein, dass seine verzögerte Entwicklung auch der Grund dafür war, dass über seine Zukunft noch niemand beratschlagt hatte, obwohl die Zeit für die endgültige Entscheidung darüber schon bald reif war.
    Doch selbst wenn ich mir geglaubt hätte, hätte das nicht erklärt, warum er in diesem Winter nicht mehr in die Hosen des letzten passte, weil sie nicht zu klein, sondern zu groß geworden waren. Seine Muskeln wirkten schlaff, und er hatte so viel Gewicht verloren, dass sich seine Kniescheiben wie knorrige Wurzeln unter seinen Beinkleidern abzeichneten. Am Rücken stach seine Wirbelsäule unter der Haut hervor wie eine Treppe für Kleinstgetier. Und seine Haut selbst …
    Sie wirkte nicht nur jetzt, im silbrigen Mondschein, aschfahl und viel zu trocken für einen Dreizehnjährigen. Sora war krank, und das konnte längst jeder im Schloss sehen. Aber niemand sprach darüber.
    Warum nicht?
    Der Sohn des Faros? Krank? Das hätte unangenehme Fragen aufgeworfen. Das Volk glaubte, dass es nichts gäbe, was die Körpermeister in den Ruhehäusern nicht in den Griff bekämen, kaum ein Gebrechen, das sich nicht heilen ließ, ehe man alt und grau und schrumpelig war und irgendwie alles auf einmal kaputt ging. Es gibt nicht viele dieser vermeintlichen Wunderheiler, denn ihre Ausbildung ist langwierig und kostspielig. Doch jene, die es gibt, können Krokodilköpfe an Giraffenhälse operieren, und es entsteht ein Wesen, das lebt. Zumindest für eine kurze Zeit. Und mein Vater beschäftigte den besten von ihnen.
    Was hätten die Leute denken sollen, wenn sie erfahren hätten, dass mein Bruder einen Mangel hatte? Es hätte ihr Vertrauen geschwächt. Und dieses Vertrauen ist unbedingt notwendig, damit unsere Gesellschaft funktioniert. Eine funktionierende Maschine – du erinnerst dich? Ich werde dir später mehr darüber erzählen. Es ist wichtig, wenn du mich verstehen willst. Aber nicht jetzt.
    Natürlich hatte ich mich mit dieser Frage, die sich das Volk nicht stellen sollte, insgeheim längst beschäftigt. Aber ich hatte es nicht gewagt, sie laut auszusprechen. Ich glaube, ich habe die Wahrheit nicht hören wollen. In dem Moment, in dem ich meinen Bruder auf den sichtbaren Verfall angesprochen hätte, hätte ich mir selbst eingestanden, dass es tatsächlich eine Krankheit gab , dass ich mir das Schwinden seiner Kräfte nicht bloß einbildete. Das wollte ich nicht.
    Aber nun hatte Sora es selbst gesagt. Ich konnte es nicht länger verdrängen.
    »Ich habe mein Herz zerstört«, flüsterte er nach einer Weile.
    »Unsinn!«, behauptete ich. »Ich kann es genau hören. Es schlägt genau hier unter deiner Brust.« Ich tippte ihm mit dem Zeigefinger auf das knochige Brustbein.
    »Aber es schlägt nicht gleichmäßig«, klärte Sora mich auf. »Manchmal setzt es für einen Schlag aus, ab und zu auch für mehrere, meistens schlägt es zu langsam und hin und wieder auch viel zu schnell, sodass es schmerzt.«
    »Auch mein Herz schmerzt dann und wann«, winkte ich ab. »Besonders nach dem Ballringen.«
    Mein Bruder schüttelte den Kopf. »Glaub mir, Schwester. Mein Herz ist krank. Ich weiß es schon lange. Und Vater weiß es auch.«
    Ich setzte mich auf und sah ihn an.
    »Nur mal angenommen, ich würde so tun, als ob ich dir glaube«, erklärte ich trotzig. »Warum lässt Vater dir dann kein neues geben? Als er noch in Silberfels geforscht und gearbeitet hat, hat Hommijr die Schwingen eines Schwans an einen Schimmel genäht, und danach konnte er fliegen. Das erzählt man sich zumindest.«
    »Warum habe ich kein neues Ohr bekommen?«, erkundigte sich Sora anstelle einer Antwort.
    »Weil es blöd aussähe«, gab ich prompt zurück. Auch darüber hatte ich mir schon

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