Das Mädchen aus dem Meer: Roman
damals geschenkt, damit ich immer an ihn denke, und es war das einzige Geschenk, das ich mitnehmen konnte, als ich nach Silberfels ging. Eigentlich hätte ich ihn zurücklassen müssen. Der Sinn dieser albernen, alten Tradition ist schließlich, dass der, der verreist, etwas hat, das ihn möglichst schnell wieder nach Hause zurücklockt. Aber Sora gab mir die Kette heimlich, und ich verbarg sie unter meinem Kleid und nahm sie mit, als ich am Morgen danach über die lange Leiter am Sternensilber vorbei in das Mana kletterte, das in unserem Hof gelandet war.
Halt! Warte!
Was ist denn?
Du … Du hast mir gerade erzählt, dass deine Eltern ein Kind gestohlen haben.
Gekauft, schätze ich. Und?
Und jetzt redest du einfach wieder von diesen fliegenden Dingern …
Ja, also hör zu.
Es war meine erste Manareise, und ich hätte schrecklich aufgeregt sein müssen. Aber dazu war ich noch viel zu müde. Auch das ist Sinn des Abschiedsfestes, weißt du? Man kommt erst spät in der Nacht ins Bett, kippt wie tot in die Kissen, und schon wenige Stunden später, noch vor Sonnenaufgang, muss man wieder aufstehen, wird in den Baderaum gejagt, bekommt eine Kleinigkeit zu essen in die Hand gedrückt und sitzt auf einem Pferd, einem Karren, in einer Kajüte, oder – wie in meinem Fall – in einem Mana und hat bis dahin nicht einen einzigen klaren Gedanken fassen, geschweige denn eine Träne vergießen können. Irgendwo in meinem Hinterkopf flüsterte eine leise Stimme, dass ich mich auf den neuen Lebensabschnitt, der an diesem Morgen begann, freuen sollte, aber auch der Melancholie und Wehmut ihren Raum lassen sollte. Immerhin ließ ich meine ganze Familie und insbesondere natürlich meinen kranken Bruder für ein halbes Jahr zurück. Bis zum Winter würde ich mit Sora und meinen Eltern lediglich Briefkontakt halten. Und mit Rossa überhaupt keinen, denn der Kleine (den ich zwar längst nicht so sehr liebte wie Sora, der mir aber trotzdem ziemlich ans Herz gewachsen war) konnte ja noch nicht schreiben. Ich würde einen beachtlichen Teil seiner Entwicklung verpassen, und ebenso musste ich für mehrere Monate auf Freiheit verzichten.
Aber ich war so erschöpft, dass mich all das kaum berührte, als ich – unter Moijos strengen Augen und den neugierigen Blicken all jener, die das Getöse des landenden Manas vorzeitig aus dem Schlaf gerissen hatte – die Sprossen der Leiter erklomm, die an der Sternensilberkugel vorbei in die Warenkammer führte. Ich erinnere mich, dass ich dachte, dass es wirklich freundlich gewesen wäre, das leuchtende, flüssige Metall unter einem Tuch zu verbergen, weil es meine geschwollenen, trockenen Augen so sehr reizte, dass sie tränten, obwohl ich gar nicht direkt in die Kugel schaute. Und als ich auf einer der glatten Sprossen ausglitt und um ein Haar in die Tiefe gestürzt wäre, dachte ich, dass es ebenso nett gewesen wäre, die Sprossen mit Leder oder einem anderen rutschfesten Material zu versehen.
Als ich mich durch den Einstieg der Warenkammer gezwängt hatte, dachte ich nicht etwa: Die wenigsten Menschen auf dieser Welt haben in ihrem ganzen Leben je die Möglichkeit, ein Mana von innen zu sehen. Ich schätze mich glücklich und stolz, mir nicht den Hintern wund reiten zu müssen . Sondern: Wieso mussten meine Eltern ausgerechnet ein Mana für mich zwischenlanden lassen, das Knoblauch, Kümmel und andere streng riechende Gewürze nach Silberfels transportierte?
Ich war eben müde. Und wenn ich müde bin, bekomme ich zuweilen schlechte Laune. Ich war undankbar, gereizt und lustlos. Und als ich mich durch die schwach beleuchtete Warenkammer getastet hatte und über die zweite Leiter in den riesigen, kugelförmigen Steuerraum darüber gelangt war, sank meine Laune auf den absoluten Nullpunkt und fror vorerst dort fest. Denn dort erwarteten mich nicht nur der Pilot und dessen Ersatzmann, sondern auch …
Cocha!
Er reiste nicht nur mit einem Mana (was eine Anmaßung für einen einfachen Statthaltersohn war und er zweifellos nur der Freundschaft zwischen unseren Vätern verdankte), sondern hatte es sogar schon vor mir bestiegen (was eine Beleidigung war) und saß nun auf einem von nur zwei verfügbaren Sitzplätzen für Mitreisende. Offenbar erwartete er, dass ich mich gleich neben ihm niederließ (was eine Anmaßung und eine Beleidigung war).
Ich verharrte im Einstieg und rümpfte die Nase. Cocha war schon vor zwei Jahren nach Silberfels gegangen und hatte nur den Sommer in Kirm verbracht, darum
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