Das Mädchen aus dem Meer: Roman
selbst, aber nur einen kleinen Schluck.
»Glitzerwasser«, erklärte sie knapp. »Im Fass ist noch mehr davon.«
»Es schmeckt nicht sehr gefährlich«, stellte Froh fest.
»Ist es auch nicht«, erwiderte Chita düster. »Sonst hätte ich dir die Flasche überlassen. Immerhin wolltest du einen Menschen essen.«
Froh schüttelte den Kopf. »Ich sagte doch: Ich wollte dir helfen. Mir liegt nichts an meinem Leben. Ich habe nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt. Ich kann nicht zurück, denn ich bringe Unglück über meine Familie.«
»Du hast mich«, gab Chita mit Nachdruck zurück. »Du hast gesagt, du willst mich retten. Also bleib gefälligst am Leben, bis ich gerettet bin. Danach sehen wir weiter.«
Sie schüttelte den Kopf, nippte wieder an der Flasche und musterte ihn nachdenklich.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich nach einer Weile. Ihr Zorn war so schnell verraucht, wie er sie in Besitz genommen hatte. »Ich kenne diese Geschichten auch: Schiffbrüchige, die im Angesicht des Todes durch Hunger und Durst andere Schiffbrüchige töten und verspeisen … Aber so tief werden wir nicht sinken. Versprochen.« Sie reichte ihm die Flasche. »Hier. Trink.«
Froh reagierte nicht. Ihm fiel ein, dass da noch etwas war, das er ihr unbedingt sagen musste, aber ehe er die richtigen Worte gefunden hatte, fuhr Chita ihn auch schon wieder mit strenger Stimme an.
»Trink!«, wiederholte sie und wedelte ungehalten mit der Flasche vor seinem Gesicht herum.
Er kam ihrer Aufforderung nach. Etwas Flüssiges und noch dazu herrlich Süßes die ausgetrocknete Kehle hinablaufen zu lassen, tat unwahrscheinlich gut, doch sofort plagte ihn wieder das schlechte Gewissen. Sein verdorbener Körper hatte es nicht verdient, dass man ihm guttat. Trotzdem schluckte er gehorsam, bis der letzte Tropfen des klebrig-süßen Saftes getilgt war, denn erst dann nickte die Fremde zufrieden, nahm die Flasche wieder an sich und forderte ihn auf, das Fass anzuheben. Sie entkorkte es und füllte die Flasche wieder auf – sorgfältig darauf bedacht, möglichst keinen Tropfen zu verschütten.
»Wenn sie uns holen kommen, sind wir betrunken«, stellte sie unverhältnismäßig vergnügt fest.
Über ihre Launenhaftigkeit konnte Froh nur staunen, aber sie beängstigte ihn auch. Sie war so seltsam. Und erst dieses … Glas … So etwas hatte er nie zuvor gesehen. Sollte tatsächlich mehr Wahrheit in ihrer Geschichte stecken, als er bislang angenommen hatte?
Nein.
Es war eine Prüfung. Die letzte seines irdischen Lebens.
Froh griff nach seinen Paddeln und stieß ihre Enden entschlossen in die Wellen. Kein Mensch, nicht einmal ein grüner mit blauen Haaren und gelben Augen, und kein Stein, auch keiner, durch den man hindurchsehen konnte, könnte seinen Glauben erschüttern. Niemals würde er an den Göttern zweifeln.
»Deine Schwester hat keine Sünde begangen«, sagte er. »Ihre Seele ist nicht bei Vulka. Bestimmt steckt sie längst in einem neuen Menschen und genießt eine neue Chance. Oder sie ist in der Welt über den Wolken.«
Chita schnaubte. »Zumindest der Rauch ist ganz schön hoch aufgestiegen«, kommentierte sie. »Sie haben sie noch in der Nacht verbrannt. Zusammen mit dem Kadaver einer kranken Kuh, die wir am Vortag hatten schlachten lassen müssen. Niemand sollte erfahren, dass mein Vater ein Kind gezeugt hatte, das so mangelhaft war, dass es nicht eine einzige Stunde am Leben blieb«, erklärte sie mit verächtlich verzogenem Gesicht. »Am kommenden Morgen präsentierten meine Eltern uns und dem Rest der Welt ein anderes Baby. Auf einmal hatten wir einen kleinen Bruder.«
Zweiter Teil
16
S ie benannten ihn nach einer kleinen, zu dieser Zeit unbewohnten Insel, die wir jüngst nach einer vergeblichen Aufklärungsexkursion von den wenigen, unbelehrbaren Barbaren befreit hatten, die dort heimisch gewesen waren. Wobei Barbaren schon viel zu beschönigt ist. Selbst Primitive hätte man sie nicht nennen können. Es waren behaarte, menschenähnliche Kreaturen, die in Höhlen lebten, sich mit Grunzlauten verständigten und einander dann und wann einen Knüppel oder einen Stein über die Schädel zogen. Sie waren so minderbemittelt und unterentwickelt, dass sie dem Tier bei Weitem näher waren als dem Menschen. Sie benutzten sogar noch Faustkeile, das musst du dir mal vorstellen! Sie waren fast wie die Uppaketen, nach denen du vorhin gefragt hattest. Dabei solltest du sie eigentlich besser kennen als ich. Aber gut …
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