Das Mädchen aus dem Meer: Roman
kein Lehrmeister in der Nähe war, waren da immer noch die Krieger, die mich bewachten und von denen ich nicht mit Sicherheit wusste, ob sie es nicht unter Umständen für angebracht hielten, meinen Eltern von meinem außerschulischen Treiben in Silberfels zu berichten, denn Cocha war beileibe nicht das, was man sich unter einer guten Partie für ein Mädchen meines Standes vorstellt. Ein Umstand, den ich nach Möglichkeit verdrängte, aber auch nie ganz vergaß.
Cocha, so redete ich mir gut zu, sobald die Zweifel übermächtig zu werden drohten, war von relativ niederem Stand, aber groß und stark und klug, und außerdem waren unsere Eltern nach wie vor eng befreundet. Gemeinsam würden wir schon eine Lösung finden, sobald der erste Schritt endlich getan war und ich ihn vor all meinen (dann sicher noch neidischeren) Mitschülerinnen mein Eigen nennen konnte.
Weil ich mich ein wenig für den großen Augenblick sammeln wollte, verzichtete ich auf den Ochsenkarren, sondern legte den ganzen Weg von der Südseite zum östlichen Stadtrand zu Fuß zurück. Die Krieger saßen ab und führten ihre Rösser an den Zügeln, während sie mir folgten, aber das Geklapper der Hufe auf dem Pflaster war natürlich trotzdem noch mehrere Straßen weit zu hören. Es gab nicht viele Novizen und Novizinnen, die von so hohem Rang waren, dass sie unter Begleitschutz standen, geschweige denn über einen eigenen Karren verfügten. Abends war es immer recht ruhig in der Stadt; wenigstens abseits des Theaters, des Sportplatzes und der Musikhalle, in der man sich an den Wochenenden zum gemeinsamen Tanz zu heißen Rhythmen traf.
Für all das war es jetzt jedoch noch ein wenig zu früh, obwohl es schon fast dunkel war, und so war ich zuversichtlich, Cocha noch in seinem Haus anzutreffen, wo er sich bestimmt erst ein wenig ausruhen und umziehen würde, was auch immer er heute Abend noch zu tun gedachte. Er war doch so behäbig.
Ihm und seinen Mitbewohnern war das Haus mit der Nummer Dreiundachtzig in der Achten Straße zugewiesen worden, und als ich letztere endlich erreichte, erkannte ich gleich, dass ich mich verschätzt hatte: Cocha hatte seine Schulkleider längst gegen seine beigen Klamotten ausgetauscht und passierte gerade den kleinen Vorhof, als ich ihn im Schein der Straßenlaternen ausmachte. Und er war nicht allein. Er ging in Begleitung einer Glaskunde-Novizin, die ich vom Sehen her kannte. Sie hatte einen fürchterlichen igberischen Namen, den sich niemand merken konnte und in dem sehr viele As und Ns vorkamen. Darum nannten die meisten sie einfach Anna, was zwar nichts bedeutet, aber weniger Knoten in Zunge und Hirn verursachte.
Bislang hatte ich keinen einzigen Gedanken an das unscheinbare Mädchen verschwendet. Doch als ich sie jetzt sah, vertraut eingehakt in Cochas Armbeuge, wollte ich sie plötzlich töten. Mich führte er nie auf diese Art irgendwo hin.
Ich beschleunigte meine Schritte, um zu den beiden aufzuschließen, die einfach so taten, als hätten sie mich nicht bemerkt (was natürlich Blödsinn war, denn die Krieger waren, wie gesagt, nicht zu überhören). Doch als ich auf Höhe der Nummer Dreiundachtzig angekommen war, rief jemand meinen Namen.
Ich reagierte nicht, sondern stampfte entschlossen weiter. Was bildete sich dieser arrogante Fettsack eigentlich ein, mich wie Luft zu behandeln und mit einer unbedeutenden grauen Maus wie dieser Anna davonzuspazieren?, dachte ich. Schließlich hatte er mich in den Wochen zuvor angeflirtet, wo auch immer sich Gelegenheit dazu geboten hatte! Oder wie sollte ich das verstehen, wenn jemand mich zum wiederholten Male ins Badehaus einlud, oder wenn er mir, während er mich durch die Stadt führte, ausdrücklich riet, mich von dieser und jener Hausnummer fernzuhalten, weil dort raue Burschen ohne Anstand und Respekt hausten? Oder wenn er sich im Theater immer neben mich setzte, obwohl während der Aufführungen nicht gesprochen werden durfte und er mir folglich auch nichts erklären konnte?
Und auf unserer Reise im Mana: Da hatte er mir den Nacken gekrault, oder? Als ich auf seinem Schoß gelegen hatte, hatte er meine Nähe genauso genossen wie ich seine. Ich hatte es ganz genau gespürt. Und immer, wenn er mich ansah, flackerte sein Blick ein kleines bisschen, als ob auch er nervös wurde, wenn wir einander begegneten – auch wenn er sich das ansonsten natürlich nicht anmerken ließ. Und dann dieses Gefühl, das ich dir eben beschrieben habe: Als ob die Energie einer ganzen
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