Das Mädchen aus dem Meer: Roman
fünfte Tag war allen anderen Fächern vorbehalten, und der sechste und siebte Tag waren frei.
Das Lernen in Silberfels bereitete mir viel mehr Freude als zu Hause bei Moijo, obwohl Fleiß und Ehrgeiz mir noch immer fernlagen. Aber fremde Sprachen bereiteten mir nach wie vor keinerlei Schwierigkeiten, und dadurch, dass ich nicht jeden Fehler selbst begehen musste, um daraus zu lernen, sondern auch aus denen der anderen die richtigen Schlüsse zog, machte ich sogar noch schnellere und größere Fortschritte. Selbst die Experten waren beeindruckt, und schon bald prophezeite man mir eine große Zukunft; nicht nur als Schwester des zukünftigen Faros von Lijm und Jama, sondern auch als fester Bestandteil der Sprachkundigenelite. Das Konzept, für das diese Stadt eigens errichtet worden war, ging also voll und ganz auf.
An den Abenden und freien Tagen vergnügte ich mich zumeist im Badehaus, auf dem Sportplatz oder in unserem kleinen Tierpark mit seinen auserlesenen, überwiegend exotischen Arten. Und bald auch häufig mit Cocha, denn ich begann mich nicht nur an die Hummeln im Bauch zu gewöhnen, sondern auch, sie zu akzeptieren, was folgenden Grund hatte: Zunächst hatte ich geglaubt, dass die zahlreichen Blicke jener, die verharrten und auf den Karren starrten, sobald er über das pieksaubere Pflaster der Stadt ratterte, mir, der einzigen Tochter des Faros, galten und (wie ich es gewohnt war) überwiegend von Respekt und ehrfürchtigem Staunen zeugten. Aber inzwischen war mir aufgefallen, dass viele meiner Mitschüler nicht etwa zu mir, sondern ihm, Cocha, aufsahen. Insbesondere die Mädchen. Nicht wenige wurden rot, sobald er sich in ihre Nähe begab, und hinter seinem Rücken wurde viel getuschelt und gekichert. Dabei lernte er hier nur die Navigation, was nicht gerade als das anspruchsvollste aller Fächer gilt, und sein Vater ist nur ein einfacher Statthalter.
Trotzdem war es offenbar nicht außergewöhnlich, dass sich ein Mädchen in Cocha verliebte, und wenn es so vielen passierte, konnte es doch keine so große Schande sein, wie ich gedacht hatte. Es war nicht sein Äußeres, das die Mädchen gefangen nahm, und auch nicht sein Stand oder das, was er zu werden versprach, sondern seine ganz besondere Art. Und natürlich seine Stimme. Sie ging wirklich unter die Haut und ließ nahezu jeden, der gesprochen hatte, ehe Cocha das Wort ergriff, intuitiv verstummen. Dass er nicht besonders viel redete, machte ihn umso interessanter und sorgte nebenher dafür, dass sich der Reiz, der von seinem Tenor ausging, nicht abnutzte.
Dass es in Wirklichkeit doch nicht allein seine Stimme und seine Ausstrahlung waren, die ihm in den beiden Jahren, die er bereits hier war, zu einem gewissen Status verholfen hatten, stellte ich erst fest, nachdem ich ihm nach Schulschluss heimlich zu seinem Schülerhaus folgte. Es war spät im Herbst. Die Dämmerung war schon hereingebrochen, aber es war der letzte Abend vor dem Wochenende. Ich hatte wunderbare Nachrichten. In der vor Aufregung schweißnassen Hand hielt ich ein Schreiben, das mich heute von meinem Bruder erreicht hatte. Außerdem hatte ich eine Überraschung für Cocha vorbereitet – vorgeblich als Entschuldigung dafür, dass ich ihn in den ersten Tagen und Wochen so herablassend behandelt hatte, in Wahrheit aber, um ihn dazu zu motivieren, mich zu erobern, denn nach unserer Flugreise hatte er wohl keinen Vorwand mehr gefunden, um mich in den Arm zu nehmen. Oder wenigstens bei der Hand. Ich hielt ihn für schüchtern – zumindest in solchen Dingen.
Aber wenn ihm wirklich etwas an meinem Bruder lag, wie er im Mana behauptet hatte, und er sich folglich von ganzem Herzen mit mir über das freute, was in dem Brief stand, oder wenn er sich für die Überraschung, die ich für ihn hatte, bedanken musste, war das doch ein guter Vorwand, um mir endlich wieder nahezukommen. Und wenn er mich dann im Arm hielt, wollte ich unsicher zu ihm aufblicken und dann verlegen lächelnd auf meine Füße gucken, wie ich es tagelang eigens für diesen Anlass geübt hatte. Und dann würde er mir mit der Hand durchs Haar fahren oder mein Kinn mit den Fingern anheben und …
Schon gut. Erzähl lieber deine Geschichte weiter …
Viel mehr hatte ich mir auch nicht vorgestellt. Letztlich spielte dieser Akt in meiner Fantasie wahlweise in seinem Schülerhaus, das er mit zwei anderen Jungen bewohnte, oder sogar auf dem Reitplatz, also in aller Öffentlichkeit. Und auch, wenn ich es geschickt anstellte und
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