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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Hohlbein
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sich unter uns mehrere Meilen in Richtung Süden erstreckte, und ihr Anblick beeindruckte mich zutiefst.
    Verglichen mit Silberfels, war Kirm ein Guanoklecks. Obwohl ich durch die Erzählungen Moijos sowie die zahlreichen, detaillierten Bilder in meinen Büchern gut darauf vorbereitet war, war mir im ersten Moment, als presste mir eine unsichtbare Riesenhand die Luft aus den Lungen.
    Silberfels war vollständig aus reich verziertem, weißem Kalkstein und Unmengen von Glas errichtet; beides reflektierte das Licht, dass mir die Augen tränten, und trotzdem war gleich auf den ersten Blick zu erkennen, dass sich die Stadt nicht im Laufe der Zeit zu dem entwickelt hatte, was sie war. Sie war nicht aus einer kleinen Siedlung erwachsen, der sich nach und nach immer mehr Menschen angeschlossen hatten, sondern nach einem ausgeklügelten Bauplan errichtet worden, der keine Gasse, keinen Anbau, nicht einmal einen Erker außer Acht gelassen hatte. Jede Treppe, jeder Brunnen und jedes Mäuerchen fügte sich perfekt in das Bild der Stadt, die sich wie ein Halbmond an die Hügel schmiegte und zur Südseite hin an einen breiten, klaren Wasserlauf grenzte, auf dem eine Unzahl kleiner Boote trieb und der die Aquädukte mit klarem, süßem Nass speiste.
    Das andere Ufer war dicht bewaldet – die nächste Ortschaft war zu weit fort, als dass man sie vom Landeplatz aus auch nur hätte erahnen können, und ungeachtet der enormen Größe der Stadt gab es nur drei Straßen, die durch das schier endlose Dickicht von ihr weg führten, beziehungsweise zu ihr hin. Zu wenige für einen Tag wie diesen, an dem die Neulinge, zu denen auch ich zählte, ihr neues Zuhause für das nächste halbe Jahr erreichten. Die Straßen waren verstopft, wie jene nach Kirm an besonderen Tagen. Und wie das Stadttor von Kirm wurden auch die vier Brücken, die über den Fluss führten, streng bewacht. Die Brücken führten durch Tore, die sich bei Bedarf mit kupfernen Fallgittern verschließen ließen, und auf dem Überbau eines jeden Stadttors patrouillierten Wachleute mit Fernschauern, wie in Hohenheim.
    Das Zentrum bildete die Hohe Schule, deren insgesamt sechs Gebäude über jeweils drei Stockwerke verfügten – zwei mehr als alle anderen. Ihre Dachziegel setzten sich in kräftigem Kobaltblau von den hellblauen Schindeln der übrigen Gebäude ab. Kein Zweifel: Diese Schule war nicht etwa für die Stadt errichtet worden, sondern die Stadt für die Schule, und die Häuser wurden ausschließlich von Menschen bewohnt, die der Forschung und der Bildung oder eben den Gelehrten und zu Belehrenden dienten.
    »Gefällt dir, was du siehst?«, erkundigte sich Cocha.
    Vor lauter Staunen hatte ich glatt vergessen, dass er noch immer hinter mir stand. Nun drehte ich mich irritiert zu ihm um und erschrak, als ich ihn zum ersten Mal seit Langem bei Tageslicht sah.
    Er war doch dick. Ein bisschen jedenfalls. Und die Haut in seinem Gesicht war gerötet, wie ein wunder Babyhintern – es war ja Sommer, und er verträgt doch die Sonne nicht. Von meinem Schweiß und meinen Tränen klebten seine dünnen, beigen Beinkleider feucht an seinen Oberschenkeln, wodurch ich Dinge sah, die ich nicht sehen wollte, und ich begann mich für alles, was im Steuerraum passiert war, fürchterlich zu schämen, obwohl meine Hände schon wieder zu zittern begannen, kaum dass sich unsere Blicke trafen.
    »Solange ich dich nicht ansehe, schon«, gab ich patzig zurück und drehte mich wieder von ihm weg; dieses Mal aber nicht, um das Panorama zu genießen, sondern damit er nicht sah, dass ich schon wieder rot anlief. Erhobenen Hauptes stolzierte ich an den vier Kriegern vorbei, die unserer Ankunft auf dem Landeplatz geharrt hatten. Außerdem stand ein gut gepolsterter Karren, vor den zwei Auerochsen gespannt waren, für mich bereit, wie ich an dem Wappen erkannte, das auf seiner Rückseite prangte. Ich kletterte hinein, während die Piloten ein paar anwesende Diener, die mit Handkarren gekommen waren, anblafften und das Mana eifrig ent- und neu beladen wurde.
    »Nichts da!«, zickte ich, als Cocha sich ebenfalls auf den Karren schwingen wollte. »Das ist meiner. Du kannst laufen. Ein bisschen Bewegung könnte dir ohnehin nicht schaden.«
    »Da irrst du dich«, gab Cocha gelassen zurück und drapierte seinen dicken Hintern ungeachtet meines lautstarken Protestes auf der Bank neben mir. »Ich bin dein Pate«, erklärte er. »Es ist meine Aufgabe, dir die Stadt zu zeigen und dir die Regeln zu erklären.

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