Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Golondrin, der mich die ganze Nacht nicht aus den Augen gelassen hatte, war schnell zur Stelle, aber das war nicht der Grund, aus dem ich Anna dann doch nicht das Nasenbein ins Kleinhirn drosch.
Der Grund war, dass sich Cocha freute, mich zu sehen.
Kaum hatte er mich erblickt, schob er Anna eine Armeslänge von sich und schritt selbstsicher auf mich zu, um mich zu grüßen, indem er mich an sich drückte. Das tat er sonst nie, und obwohl ich ganz genau wusste, dass es bloß eine perfide Taktik war, um mir den Wind aus den Segeln zu nehmen, funktionierte seine Strategie. So kurz der Augenblick auch war, in dem er mich umarmte: Der Moment, in dem ich seine Wärme fühlte und seinen Duft atmete, ließ mich schlicht dahinschmelzen. Mein Zorn verrauchte jäh, und obwohl Anna noch immer in der Nähe herumstand und gelöst mit einer Mitschülerin plauderte, als wäre nichts Besonders passiert, hatte ich plötzlich überhaupt keine Lust mehr, ihr wehzutun. Viel lieber wollte ich, dass Cocha mich gleich noch einmal begrüßte. Oder dass er einen anderen Grund fand, aus dem er mich in den Arm nehmen konnte. Über Anna konnten wir uns ein anderes Mal unterhalten.
Außerdem nahm er meine Hand und dirigierte mich an einen der Tische, die die Tanzfläche säumten.
»Möchtest du etwas trinken?«, fragte er, wobei er schon einen Dienstjungen mit einem gut gefüllten Tablett herbeiwinkte. »Saft? Wasser? Mammutmilch?«
Ich verneinte. »Ich will mit dir reden«, erklärte ich, ohne mich auf den Hocker zu setzen, den er mir zurechtgerückt hatte. »Allein«, fügte ich drängend hinzu.
»Über Anna?«, riet Cocha, schnappte sich einen Becher Mammutmilch vom Tablett des Dienstjungen und ließ sich auf den zweiten Hocker am Tisch fallen, als hätte er einen anstrengenden Marsch hinter sich. Ich versuchte, nichts in seine offenkundige Erschöpfung zu interpretieren, was in irgendeiner Form mit Anna zusammenhing, und schüttelte den Kopf.
»Da ist nichts mit Anna«, erklärte er trotzdem und schlürfte von der süßen Milch in seinem Becher. »Wir sind nur gute Freunde.«
»Nicht über Anna«, verneinte ich, was nur eine halbe Lüge war. Über die Tümpelente wollte ich später mit ihm reden. Inzwischen war ich froh, das Golondrin mich am Abend vor einem großen Fehler bewahrt und ich mich gerade eben noch beherrscht hatte, denn ob Cocha nun etwas mit Anna hatte oder nicht: Ganz sicher hätte er es mir verübelt, wenn ich ihr das Gesicht mit den Fingernägeln entstellt und die Augen ausgestochen hätte. Besser, ich hielt mich zumindest so lange zurück, bis ich als seine Lebensgefährtin zur Eifersucht legitimiert war.
Und dazu musste er erst einmal vor allen anderen zu dem stehen, was er seinem Freund anvertraut hatte. Er sollte laut sagen, dass er mich mochte, oder es sonst wie offen zeigen. Meine Überraschung war geplatzt, aber wenn er von dem Brief erfuhr, der inzwischen in meiner Gürteltasche steckte, würde er sich zumindest aufrecht mit mir freuen. Sora mochte er doch auch – das hatte er zumindest im Mana behauptet. Der Brief würde ihm den offenbar nötigen Vorwand dazu liefern, endlich den ersten Schritt zu tun und …
Jetzt oder nie, dachte ich. Wenn er diese Chance nicht nutzte, entschied ich im Stillen, musste da doch was sein zwischen ihm und Anna. Und dann würden die beiden mich von einer anderen Seite kennenlernen.
»Mein Bruder hat mir geschrieben«, sagte ich, setzte mich und zog den Brief aus der Tasche. »Willst du ihn lesen?«, drängte ich, als Cocha ihn nur eines knappen Blickes würdigte und dann schlürfend die Novizen und Novizinnen zu beobachten begann, die sich auf der Tanzfläche vor der Musikantenbühne drängten. Die Kapelle spielte gerade ein schnelles Stück aus dem warmen Süden. Es war so laut, dass ich fast schreien musst e.
»Es ist dein Brief«, betonte Cocha, und ich versuchte, sein offenkundiges Desinteresse als Anstand fehlzuinterpretieren.
»Sora bekommt ein neues Herz«, sagte ich und schob den zusammengerollten Brief ein Stück weiter in seine Richtung. »Schon im kommenden Frühling. Ist das nicht wundervoll?«
Cocha sah mich nicht einmal an. »Ja, ganz wundervoll«, grummelte er so leise, dass ich seine Worte eher erahnte, als sie wirklich zu verstehen.
Bestimmt verhielt es sich umgekehrt nicht anders, dachte ich und wiederholte so laut, wie ich konnte: »Ich sagte: Mein Bruder bekommt ein neues Herz!«
Ungünstigerweise war das Stück, das die Musikanten gerade gespielt
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