Das Mädchen aus dem Meer: Roman
war. Es gab schon jetzt so viele Regeln, die eingehalten, so viele Rituale, die vollzogen, so viele Opfer, die erbracht werden mussten. Nur zwei oder drei Gottheiten mehr, und Froh würde den Überblick verlieren. Dann würde er vielleicht noch mehr Fehler begehen.
Er wagte es nicht, den Gedanken weiterzuführen. Eine Welle, die so viel Wasser brachte, das blieb …?
Nein.
Froh zog sich nach Chita, die er vorweg hatte schwimmen lassen, um sie im Auge zu behalten, auf den Schroff und ließ sich schwer atmend vornüberfallen. Dass sich zahllose spitze Steine in seinen Brustkorb, sein Becken, seine Oberschenkel und seine linke Wange gruben, spürte er dabei kaum. Land!, dachte er, wälzte sich halb auf die Seite und küsste den grauen Schiefer, der seinen Kuss so leidenschaftlich erwiderte, dass seine Lippen wieder aufplatzten und bluteten.
»Danke, Ivi!«, flüsterte er und küsste den Boden noch einmal. Dann rappelte er sich auf die Knie und eine Hand auf und reckte Chita, die neben ihm auf dem Rücken lag und wirklich schrecklich aussah, die matschigen Maulbeeren entgegen. »Von den Göttern für dich«, erklärte er lächelnd.
Schwach öffnete Chita ein Auge, und Froh schob ihr eine der Beeren in den Mund. Sie verschluckte sich daran, hustete und setzte sich auf.
»Das waren nicht die Götter, sondern du!«, schalt sie ihn. »Und ich wäre fast daran erstickt!«
Nichtsdestotrotz entriss sie ihm die übrigen, zum Teil aufgeplatzten Beeren und stopfte sie sich gierig in den Mund.
Froh musterte sie ein wenig erstaunt und überlegte dabei, wie viel mehr tot als lebendig diese seltsame Fremde eigentlich sein musste, ehe sie keine Kraft mehr für Überheblichkeit und Arroganz aufbrächte. Dann erkundigte er sich nachdenklich: »Hast du eigentlich nie geglaubt? Nicht einmal ein ganz kleines bisschen? An irgendeine höhere Macht, oder auch nur an Geister oder Dämonen?«
»Bitte!«, stöhnte Chita. »Versuch gar nicht erst, mich zu bekehren. Ich habe Hunger und Durst!«
Froh ließ sich nicht beirren, denn während sie sich zwischen den Felsen zu diesem wenige hundert Schritt durchmessenden Stück Land hingearbeitet hatten, war ihm noch ein anderer wichtiger Gedanke gekommen, den er unbedingt mit ihr teilen wollte, ehe sie beide starben. Vielleicht konnte er ihr doch noch helfen.
»Dein Universum«, erkundigte er sich, während er sich von ihr abwandte, um die Felslandschaft in Augenschein zu nehmen. »Wie groß ist es eigentlich genau?«
»Was für eine Frage!«, seufzte Chita. »Es ist natürlich unendlich groß. Selbst durch die stärksten Fernschauer können wir nur einen winzigen Teil davon überblicken. Und jedes Mal, wenn jemand einen noch besseren Fernschauer entwickelt hat, sehen wir ein kleines Stückchen weiter in die Unendlichkeit.«
Froh nickte. Unendlich war sogar noch größer, als er erwartet hatte. »Und was kommt nach mehr als zwanzig Mal unendlich groß?«, hakte er nach.
»Mehr als zwanzig Mal unendlich«, äffte Chita ihn nach. »Wie willst du die Unendlichkeit multiplizieren, du Simpel?«
»Was kommt irgendwann?«, beharrte Froh.
»Nichts«, vermutete Chita. »Oder noch mehr Planeten und Sterne.«
»Warst du schon einmal da?«
»Natürlich nicht«, antwortete Chita gereizt. »Niemand kann unendlich hoch fliegen. Und wenn jemand es könnte, könnte er nicht unendlich alt werden, wieder zurückkommen und von dem berichten, was er gefunden hat.«
»Also ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Götter irgendwo dort oben befinden, unendlich groß«, nickte Froh zufrieden.
Chita maß ihn zweifelnd. »Das meinst du nicht ernst«, entschied sie schließlich. »Nein, Froh. Vergiss es. Du wirst mich nicht davon überzeugen.«
»Warum nicht?«, wunderte sich Froh.
»Weil … weil …« Chita machte eine hilflose Geste. Dann sammelte sie sich und argumentierte: »Wenn es dort oben in der Unendlichkeit Götter gäbe, dann müssten sie so weit weg sein, dass sie dich gar nicht mehr sehen könnten. Nicht durch die fortschrittlichsten Fernschauer der Welt.«
»Wenn das Universum unendlich ist«, hielt Froh dagegen, »dann existieren darin auch unendliche Arten zu sehen.«
Chita schwieg. Froh war beeindruckt von seiner eigenen Argumentation und auch ein wenig stolz, dass sie offenbar nichts mehr dagegenhalten konnte. Aber ganz zufrieden war er noch nicht, denn er hatte nicht das Gefühl, sie wirklich überzeugt zu haben. Bestenfalls hatte er sie aufgefordert, sich ein paar wirklich gute
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