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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Hohlbein
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sich zwei Frauen um eines davon stritten, das letztendlich im hohen Bogen durch die Grotte segelte und in den See platschte. Golondrin beugte sich vor, fischte es aus dem kristallklaren Wasser und reichte es dem Simpel mit dem absurd großen Kopf, der keine Chance hatte, sich gegen seinesgleichen zu behaupten und auch nur in die Nähe der Fremden mit den Körben zu gelangen.
    Aus dem Augenwinkel registrierte ich eine Bewegung. Und dann sah ich das Schrecklichste, was ich bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt je gesehen hatte: Aus einem schattigen Winkel hinter ein paar besonders großen Stalagmiten löste sich ein Schemen, den ich auch dann, wenn er sich durch helles Tageslicht bewegt hätte, nicht gleich als Mensch identifiziert hätte. Einzig der Umstand, dass er sich bewegte, obwohl es hier unten natürlich windstill war, wies ihn überhaupt als lebendiges Wesen aus. Seine Arme und Beine waren dick wie die Stämme einer jungen Kastanie, aber knorrig und verwachsen wie die von jahrhundertealten Eichen. Er hatte keine Haut, sondern eine Art von Pilzen überwucherte, rissige Rinde – und zwar am ganzen Leib, sogar im Gesicht, das sich überhaupt nicht als solches erkennen ließ. Weil ich keine Augen sah, dachte ich, dass er (oder es) blind sein müsste, aber er bewegte sich zwar langsam, jedoch zielstrebig zwischen den Stalagmiten und Stalaktiten hindurch, was mir verriet, dass er entweder doch durch irgendeins der vermeintlichen Astlöcher sehen konnte oder den richtigen Weg mit der wurzelartigen, riesigen Nase, die ihm fast bis aufs Kinn hinabhing, wie ein Hund erschnüffelte. Und einer der Fremden löste sich aus der Masse der Kranken und reichte ihm die Hand …!
    Oder zumindest den Körperteil, der ihm andeutungsweise als Hand dienen mochte …
    Ich war zutiefst erschüttert und starrte mit ungläubig angehaltenem Atem zwischen dem Bretterverschlag hindurch. In meinen Büchern und im Tierpark hatte ich schon viele außergewöhnliche Kreaturen gesehen – einige davon wirkten wirklich wie von einem anderen Stern, insbesondere jene, die in der Tiefsee lebten oder bloß anhand von Knochenfunden hatten rekonstruiert werden können, weil sie längst ausgestorben waren. Aber so etwas war nicht dabei gewesen, und als Cocha mir später erklärte, dass Tronto nur ein Mensch mit einer besonders seltenen Hautkrankheit sei, glaubte ich ihm auch das natürlich zunächst einmal nicht.
    Erst als etwas an meinem Rockzipfel zupfte, konnte ich den Blick mühsam von dem Wurzelmonster lösen. Ich schaute auf meine Füße hinab und sah das Baby ohne Beine. In der allgemeinen zügellosen Gier, die ausgebrochen war, hatte niemand mehr auf das Kind geachtet, das sich jetzt an meinem Stiefel auf die Beinstümpfe zu ziehen versuchte. Vorsichtig versuchte ich das schmutzige Baby abzuschütteln, aber es biss sich in meiner Wade fest, wodurch ich so erschrak, dass ich wohl ein bisschen zu heftig schüttelte, denn auf einmal befand es sich nicht mehr neben, sondern in der Fäkaliengrube, die so tief war, dass nur noch sein Hinterkopf aus der dickflüssigen Masse ragte. Und das auch nur für einen Moment. Dann war es ganz in Kot, Urin und Erbrochenem verschwunden, und lediglich die zähen Wellen, die die Fäkalienpfütze schlug, verrieten mir noch, wo es sich befinden musste.
    Ohne zu zögern, sprang ich hinterher, tauchte ab, fuchtelte in dem Höllensee mit den Armen herum, bis ich etwas ertastete, das mir groß genug schien, um ein Kind zu sein, und rettete uns beide ans Ufer, ohne dass irgendjemand auf der anderen Seite des Verschlags auch nur von dem Todeskampf ahnte, den ich soeben ausgefochten hatte.
    Ich glaube, du übertreibst ein bisschen.
    Natürlich.
    Aber ich war trotzdem über und über mit Fäkalien besudelt, als ich das nunmehr winselnde Baby endlich in den Armen hielt. Und bemerkt hat es tatsächlich keiner.
    Cocha war der Erste, der erriet, was geschehen war, als er, kaum dass Kratt und seine Begleiter mit den nunmehr leeren Körben verschwunden waren, zu mir eilte. Er versah mich mit einem Lob, einem Dank und einem mitfühlenden Lächeln, für das es sich irgendwie schon wieder gelohnt hatte, und brachte das Kind zu seiner Mutter zurück, die es beruhigte und mit frischem Wasser aus dem See wusch – peinlichst darauf bedacht, keinen Schmutz in das klare Nass in der Mitte der Höhle triefen zu lassen. Doch ehe auch sie sich bei mir bedanken (geschweige denn, ich mich ebenfalls waschen) konnte, scheuchten Cocha, Golondrin und

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